Begriffe aus der Ego-Hölle: „Menschlichkeit“


Sie klingt so schön, sie steht auf vielen wertlosen Papieren an oberster Stelle – und sie behauptet über sich selbst, dass sie den Menschen vom Tier unterscheidet. Doch blickt man ihr tief in die Augen, dann ist sie eine Lüge an uns selbst: Die Menschlichkeit.

Weder eine Gottheit, noch ein nicht-menschliches Lebewesen hat dem Homo sapiens den Moralbegriff der Menschlichkeit auf seine schöne Stirn ettiketiert. Das waren wir selbst – ganz schön schamlos. Was genau der Homo sapiens mit seiner Menschlichkeit über sich behauptet, sagen uns die Synonyme: Güte, Nächstenliebe, Uneigennützigkeit, Mitleid, Zuwendung, Barmherzigkeit. All diese schönen Ideen, kulturgeschichtlich eng mit dem christlichen Gott verknüpft, firmiren unter der Menschlichkeit – sie scheinen uns vom Tier zu unterscheiden und einer Idee der Göttlichkeit nahe zu bringen.

Klingt schön, doch hinter der Fassade stinkt es gewaltig: Russlands faschistoider Wahnsinn in der Ukraine. Der Terror der Hamas. Beatrix von Storch will Flüchtlinge erschießen, Jens Spahn hält ihre Flinte. Olaf Scholz macht Machtpolitik auf dem Rücken seiner Kinder (oh… wait… Scholz hat keine Kinder). Kinderkreuzzüge. Der Holocaust. Jeffrey Dahmer. Häusliche Gewalt. … Man könnte hier nun eine bibeldicke Liste der Unmenschlichkeiten entgegen stellen und würde nur ein weiteres Mal aufzeigen, dass der Homo sapiens so gutherzig nicht ist, wie er meint. Aber lassen wir das: Wer auf Gewaltpornos steht, wird ja heute (2023) schon mit der Tagesschau befriedigt.

Bei allen unmenschlichen Schweinereien, die wir uns im Namen einer narzisstisch überhöhten Menschlichkeit erlauben, ist es doch vor allem der Begriff selbst, der uns narzisstisch überhöht. Nur der Homo sapiens sei menschlich, nur er kenne Güte, Nächstenliebe, Uneigennützigkeit, Mitleid, Zuwendung, Barmherzigkeit – ja letztendlich die Liebe selbst. Das sei die Menschlichkeit, die uns vom Tier unterscheide.

Was uns wirklich vom Tier unterscheidet, das ist der Intellekt. Die wahre Menschlichkeit ist also beiliebe keine Funktion des Fühlens (Güte usw.), sondern eine Funktion des Denkens: Auch der Holocaust war menschlich, denn er war rational durchdacht und strategisch gut geplant. Das angeblich große, gottnahe und gütige Menschenherz ist dagegen eine der größten Selbstlügen unserer Art.

PS: Vielleicht ist es auch der Narzissmus, der uns Menschen exklusiv gegeben ist. Von Narzissmus bei Tieren (oder gar Pflanzen) habe ich noch nichts gehört.

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2023: Die Angst geht um!


Vor zwei Jahren waren klimaengagierte Bürgerinnen und Bürger noch voller Hoffnung. Ein quasi anti-merkelianisches „Wir schaffen das!“ galt nicht nur als Durchhalteparole – es war eine ernste Überzeugung. Doch das Narrativ bröckelt gewaltig, von schaffbaren 1,5° spricht heute niemand mehr.

Es ist ein typisches Ding, dass wir Menschen die Hoffnung weit in den Bereich schieben, in dem sie im Grunde nicht mehr haltbar ist. Fällt Argument um Argument, werden sie durch Parolen ersetzt: „Wir schaffen das, weil wir es schaffen müssen!“ Solcherlei Parolen können nützlich sein, denn sie packen uns tief im Gefühl und geben uns die Energie für ein letztes (oder vorletztes) Aufbäumen gegen die übermächtigen Widerstände. Mancherlei Aufbäumen führt dann tatsächlich noch zum unerwarteten Erfolg. Auch diesmal?

Es ist viel passiert: Der Klimawandel hat deutlich an Fahrt aufgenommen. Es herrscht ein Krieg in Europa. Die CSU stört sich an Windrädern mehr als an Aiwangers Gaskammerphantasien. Und während die Emissionen nach der Corona-Delle weiter steigen, zerfällt die Welt zusehends in ein gesellschaftliches Chaos. All das ist ernüchternd: Noch nie in meinem Leben bin ich in so kurzer Zeit so vielen verängstigten Menschen begegnet, wie im Jahre 2023. Tendenz steigend.

Ein besonderes Beispiel bot Michael E. Mann in einem Twitter-Intermezzo, das im Grunde nicht der Rede wert ist. Und doch zeigt es sinnbildlich, wo wir als Bewegung stehen, wie weit der Kollaps (und das Wissen darum) in Forschung und Bewegung eingedrungen ist und was das mit der Psyche der Menschen macht.

Der ganze Schreckmoment begann mit einer Theorie des renommierten Klimaforschers Michael E. Mann. Mann sagt seit Monaten, dass die Temperaturanomalie im Nordatlantik auf zwei Faktoren rückführbar sei:

1. ausbleibender Saharastaub
2. weniger Rußpartikel über dem Atlantik

Das ist erstmal schlüssig, denn staubgroße Partikel in der Atmosphäre reflektieren Teile des Sonnenlichts zurück ins All: Sie sind ein Schutzschirm gegen die Erwärmung. Dieser Faktor kann also nicht ausgeklammert werden. Ob es der einzige Faktor ist, ist bei den weltweit fulminanten Anomalien (u.a. antarktisches Meereis, kalte Zunge, möglicher Super El Niño) in diesem Jahr jedoch unklar. Einen großen Unsicherheitsfaktor sollten wir nicht vergessen: Die Weltmeere haben fast 95% der bisher durch den Treibhauseffekt ins Erdsystem gepumpten Energie absorbiert. Für einige Zeit war diese gewaltige Menge an Energie (entspricht ca. 3.600.000.000 Hiroshima-Bomben) für uns Oberflächenbewohner unsichtbar – verschwunden war sie nicht.

Michael Mann schrieb am 16. August 2023:

Dies als Ergänzung zur Sand-und-Ruß-These, vermutete Michael E. Mann also, dass der Peak der nordatlantischen Temperaturanomalie am 16.8. erreicht wäre, sich durch die Verschiebung „nach vorne“ also insgesamt ein ähnliches Bild wie die letzten Jahre ergäbe. Der Peak 2022 war jedoch erst am 1.9., worauf ich nun in einer Antwort Bezug nahm:

Nach zwei weiteren Tweets (die wenig zur Sache tun) kam mir die Argumentation nicht wirklich schlüssig vor. Es drängte sich der Verdacht auf, dass Michael E. Mann so sehr hoffte, dass der Peak schon um den 16.8. erreicht wäre, so dass es dann – um mit dem Kaleun zu sprechen – „psychologisch wurde“. Also ging ich direkt darauf ein – die einzige Aussage auf persönlicher Ebene:

Nun könnte man mehrere Reaktionen erwarten. Oder keine Reaktion. (Dazu sei gesagt, dass sich in den Klimawissenschaften hartnäckig das Missverständnis hält, dass Angst einzig ein hemmender und kein aktivierender Mechanismus sei – von Lea Dohm auf der KlimaFAIR in Leipzig geradegerückt – weshalb sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oftmals scheuen, die katastrophalen Prognosen öffentlich zu benennen.) Was ich nicht erwartet hatte, war das:

Wow, das war dünnhäutig!
Da meine Vermutung, der renommierte Klimaforscher belüge sich selbst ein wenig, durch diesen Block natürlich unterfüttert wurde, war für mich klar: Ich warte den 1.9. ab und vergleiche die Sichtweise von Michael E. Mann mit der gemessenen Realität. Die entscheidende Frage ist also: Ist die nordatlantische Temperaturanomalie tatsächlich um den 16.8. stehengeblieben, wurde sie sogar rückläufig… oder kam es zu einem weiteren Erwärmungsschub?

Was wäre ich froh gewesen, wenn Michael E. Mann mit seiner These recht gehabt hätte und die Kurve nach unten gegangen… oder zumindest nicht gestiegen wäre. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die rote Linie zeigt den 16.8., die grüne Fläche zeigt die Differenz der Energie, von der wir hier reden. Und die ist unleugbar immens.

Ich schrieb zu Beginn: „Mancherlei Aufbäumen führt dann tatsächlich noch zum unerwarteten Erfolg.“ Doch manchmal führt es auch zu Absurditäten zwischenmenschlicher Natur, wenn man die (messbare) Realität verdrängt und die sich daraus ableitenden Wahrscheinlichkeiten nicht wahrhaben will. So wie es vielleicht einer der renommiertesten Klimaforscher des Planeten nicht wahrhaben wollte, dass die nordatlantische Temperaturanomalie mehr ist als „nur“ eine Verschiebung in der Zeitachse. Denn der Kollaps planetarer Systeme ist der Elefant im Raum, den wir alle bekämpfen, ohne ihn gegenwärtig im Raum sehen zu wollen.

By the way: Anders Levermann vom PIK denkt mittlerweile über das Versagen eines Strömungsband im AMOC nach.

Ich weiß, ich weiß… ich sollte diesen Artikel mit einer frohen Botschaft schließen. Doch die beste Botschaft kann nur lauten: Vielleicht ist das Jahr 2023 noch nicht der Beginn eines irreversiblen Kollaps planetarer Systeme. Systeme, die wir zum Überleben brauchen. Und all das deckungsgleich mit den Voraussagen der Klimawissenschaften und dem stetigen: „Das haben wir erwartet. Nur nicht schon jetzt!“ Schließt sich die Türe also? Ist sie vielleicht schon geschlossen? Um es mit The Velvet Underground zu sagen:

If you close the door
The night could last forever

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Passivist – ein Gegenmodell zum Aktivist


Die Gesellschaft erodiert, die Ökosysteme erodieren, das Klima erodiert, die Moral von Friedrich Merz ist längst erodiert. Trotzdem ist der Begriff des Aktivisten (also diejenigen, die sich der Erosion entgegenstellen) in vielen Kreisen ein Schmuddelbegriff. Otto Normalbürger bleibt lieber Passivist – und ist damit nicht alleine.

Aktiv zu sein ist dem Menschen immanent. Zu wenig körperliche Bewegung führt zu Krankheit und Schwäche, zu wenig geistige Bewegung führt zu Dummheit, zu Frustration und in letzter Konsequenz zur AfD (bzw. zur AfD mit Substanz). Inaktivität kann sogar zu Depressionen führen – ebenso ist die Inaktivität ein depressives Symptom. Wenn wir das Problem nun ganzheitlich betrachten, dann sehen wir in vielen Aspekten der heutigen Welt, wie unsere akuten Probleme durch gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Passivismus erst entstanden sind: Das ewige „weiter so“ als starres, inaktives Festhalten an veralteten Lebensweisen, denen z.B. die Physik des Klimawandels längst davongelaufen ist.

Nun will man es kaum noch hören (oder lesen), nichtsdestotrotz steht die Menschheit am größten Scheideweg mutmaßlich seit 1.000.000 Jahren. Es geht schlicht darum, ob wir auf kurzfristige Sicht ein gutes und auf langfristige Sicht überhaupt noch ein Leben leben können. Wohlwissend, dass die Zeit davon läuft, hadern viele WissenschaftlerInnen mit sich, was sie noch tun können, um den Kollaps zu verhindern. Oder zumindest zu begrenzen, weil etwas verhindern, das schon stattfindet, ist nicht mehr möglich.

Leider funktioniert der übliche Weg nur sehr begrenzt, im populistisch aufgeheizten Diskurs hat er längst die Grätsche gemacht: Klima „klickt“ nicht, das sachliche Warnen, die exakte Beschreibung von Ursache und Wirkung erreichen immer wieder dieselben Leute. Nun mag sich dieser Weg weiterhin aktiv anfühlen – man tut ja etwas (und es wäre schön, wenn dieser Weg der richtige wäre). Der Passivismus liegt in der Methodik: Man wiederholt und wiederholt die gleichen, wenig wirksamen Methoden, während sich Politik und Gesellschaft zunehmend von der nötigen Konsequenz im Kampf gegen Klimawandel und Biodiversitätskollaps abwenden.

Scientists For Future haben schon immer informiert. Sie sind die Stimme der Wissenschaft in der Klimabewegung – „Hört auf die Wissenschaft!“ ist dort gut aufgehoben. Eine Organisation, die innerhalb der Bewegung unangefochten wichtig ist, hat außerhalb jedoch kaum Relevanz. Verharrend in der überholten Vorstellung, dass man die Menschen nur informieren müsse, sind Scientists For Future gesellschaftspolitisch zum Passivisten geworden. Was übrigens eine Entscheidung ist, die die beteiligten WissenschaftlerInnen selbst getroffen haben.

Eine kleinere Gruppe labelt unter dem Schmuddelbegriff des Aktivisten: Scientist Rebellion. Durch tiefe Einblicke in beide Organisationen weiß ich sehr gut, dass sich die braven WissenschaftlerInnen möglichst fern von dieser Gruppe halten. Vielleicht sind sie durch ihre Aktionen des zivilen Ungehorsams zum stillen Vorwurf geworden: „Du weißt doch, dass wir unser aller Zukunft verlieren. Warum gehst du nicht auf die Straße?“ (eine Frage, by the way, und keine Forderung).

In einem lesenswerten Interview schreibt der Godfather of Klimaforschung, Stefan Rahmstorf: „Ich denke schon, dass sich zu wenige Wissenschaftler aktiv in die Debatte eingeschaltet haben. Einerseits wohl aus Zeitdruck, andererseits wurde man in den Medien massiv angegriffen, wenn man sich äußerte, als ‚alarmistisch‘ bezeichnet. Das hat viele Kollegen abgeschreckt.“ AuchWissenschaftlerInnen sind nur Menschen – die eigene Reputation ist am Ende des Tages oftmals wichtiger als der Beitrag zum Überleben (nicht zuletzt der eigenen Kinder). Weiter sagt Rahmstorf: „…ich denke, es ist nachvollziehbar, wenn Menschen zu radikaleren Protestformen greifen, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht.“

Und hier will ich die Brücke schlagen, bei der es vielen (noch) sehr schwer fällt, sie zu begehen – wahrscheinlich ist sie eine wackelige Hängebrücke: Ein Problem diktiert den Lösungsweg. Wenn ein Lösungsweg messbar kein befriedigendes Ergebnis bringt, dann wird es Zeit, neue Wege zu beschreiten. Wer sich dem verweigert, verharrt als Passivist in der nutzlosen Wirkungslosigkeit – letztlich im Scheitern. Wer das Risiko (!) eines neuen Weges eingeht, kann ebenfalls scheitern. Doch in welchem Gebüsch säße die Menschheit heute, wenn sie von Beginn an neue Wege ignoriert, alle Risiken vermieden und dadurch als Passivist verharrt hätte? Ja, es geht auch um persönliche Risiken: Aktivisten gehen diese ein, Passivisten vermeiden sie.

Es ist also nicht so, dass der Passivist nach dieser Definition gar nichts täte – er verharrt in der Routine (des Denkens, des Handelns, der Selbstlüge…). Damit bleibt er (oder sie) an jenem Hebel passiv, der uns den riskanten Weg zum Überleben weist: Der Hebel der Veränderung. Sei also aktiv, trete für Veränderungen ein und – ohne geht es nicht – erweitere auch Deinen eigenen Horizont! Und damit einhergehend: Dein Handlungsrepertoire.

Deine Kinder werden es Dir danken.

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„Was passiert hier?“


Wenn Systeme kollabieren, dann kollabieren sie meist schubweise. Mit jedem Schub wird der instabile Zustand deutlicher. Da wir 2023 einen größeren Schub im Klimakollaps erleben, werden sich nun viele Menschen fragen: „Was passiert hier?“

Die Zusammenfassung dieses Artikels, gleich zu Beginn: Es passiert das, wovor Wissenschaften und Klimaaktivisten („Hört auf die Wissenschaft!“) seit Jahren, zum Teil schon seit Jahrzehnten warnen. Das, was von Wirtschaft, Politik und Lobbyisten gezielt verdrängt und kleingeredet wird. Man (Merz etc. pp.) will sich ja die letzte Million nicht nehmen lassen – und sei es auf Kosten eines lebensfähigen Planeten. So weit, so bekannt.

Extreme Waldbrände und extreme Unwetter haben im Sommer 2023 begonnen, Europa stetig heimzusuchen. Während sich der Nordatlantik und das Mittelmeer weiter dramatisch aufheizen, wird dieser Artikel wohl schnell altern: Die Energie, die durch die Meere in die Atmosphäre gepumpt wird, hat erst damit begonnen, sich an Land zu entladen. Vielleicht ist der Autor dieses Artikels im Herbst 2023 schon von einem Tornado eingesogen worden. Vielleicht hast Du Dein Haus verloren. Und wenn nicht 2023, dann eben 2024. Oder 2025 (wenn laut neuester Berechnung der Golfstrom versiegen kann). Denn eines ist so sicher wie der Missbrauch in der Kirche: Es wird nicht besser werden.

Wir werden in den kommenden Monaten (von jetz ab: Ende Juli 2023) eine Schockwelle erleben, die das Potential hat, unsere Gesellschaft sichtbar zu verändern. Was sich viel zu lange als Problem der fernen Zukunft und der fernen Länder hat verdrängen lassen, schlägt nun mit steigender Heftigkeit vor unserer Haustüre zu. Ein großer Unterschied zum Ahrtal und der einen oder anderen Hitzewelle der letzten Jahre: Die Einzelereignisse hängen nun wie eine Perlenschnur eng aneinander: Das eine große Feuer ist noch nicht gelöscht, da zerfurcht der nächste große Sturm schon Stadt, Land, Fluss.

Übrigens kommt das alles mal wieder früher als prognostiziert. Doch ähnlich dem Witz in der Kernfusionsforschung, dass die Kernfusion in 50 Jahren marktreif ist, egal wann man danach fragt, so ist der elende Witz in der Klimaforschung, dass die Prognosen vor allem dazu taugen, aufzuzeigen was viel früher kommt. Früher heißt dann auch: Geballter und heftiger. Wir sehen es just in diesem Sommer, wie geballt und heftig ein so großes – weil planetares – System zuschlägt, wenn es den Menschen uns seine Ignoranz satt hat.

Das Gesamtbild eines sich radikal verändernden Klimasystems kann somit nur noch mit erheblichen Störungen am Mentalapparat ignoriert werden – Endstation Volker Wissing. Und ja, wir sehen diese Störungen offen zutage treten, wenn nach der angeblichen Pandemielüge nun die Klimalüge durch die (a)sozialen Netze flutet. Letztlich sind diese Leute die ärmsten Opfer: Wie Roboter laufen sie den soziopathischen Treibern der Klimawandelleugnung hinterher, gesteuert an der Antenne gereizter Emotionen und der damit einhergehenden Jagd nach der schnellen Lösung. Die schnellste Lösung ist natürlich: „Das findet alles gar nicht statt!“

Doch es findet statt. Und es ist keine Momentaufnahme. Es ist eine von vielen Stufen auf der Treppe hinab in den Keller eines zugrunde gerichteten Planeten. Besser wird’s nicht mehr. Nur zweierlei können (und müssen!) wir beeinflussen, wenn uns etwas an uns selbst, an unseren Kindern und an diesem einzigartigen – weil mit Ökosystemen überzogenen – Planeten liegt:

· die Geschwindigkeit des klimatisch-ökologischen Kollaps
· wie wir in dieser anhaltenden Krise mit unseren Mitmenschen umgehen

Und darüber lasse ich dich nun 10 Stunden am Kaminfeuer meditieren. Pass nur bitte auf, dass das Kaminfeuer nicht auf den nächsten ausgedörrten Wald übergreift…

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Love Death & Climate Change: Die toten Augen vom Brühl


Ein literarischer Blick in eine Zukunft, die es mit allen Mitteln zu verhindern gilt.

Ich muss drei, vier, fünf Jahre alt gewesen sein, als ein paar charakterlose Spacken in maßgeschneiderten Anzügen meine Zukunft zerstörten. Auf das Jahr genau lässt sich’s nicht verorten, doch was ändert das eine Jahr rauf oder runter an der Tatsache, dass die Welt die reinste Katastrophe ist? Meine Welt, denn ich hatte nie die Chance, ein lebenswertes Leben zu führen. Heute – im Jahre 2072 – bin ich längst erwachsen. Und während die Schuldigen friedlich und ungestört in ihren Gräbern verrotten, kämpfe ich um Nahrung, um Wasser, um Schatten… um jeden verdammten Tag! Aber was soll das Gejammer? Es ist nun mal, wie es ist.

Nackten, glatten Stein unterm Hintern, sitze ich da und beobachte die Menschen. Der Stein tut so, als wäre er Marmor. Wahrscheinlich ist er nur irgendein langweiliger Stein, vor vielen Jahrzehnten mit Farbe angereichert, damit er einen exklusiven Eindruck macht. Er fühlt sich kalt an. Kalt heißt: Bei über 40 Grad in dieser Halle (und 53 Grad Außentemperatur) gibt der Stein meinen Arschbacken ein mikroskopisches Gefühl der Kühle. Er tut wirklich, was er kann!

Die Halle ist voller Menschen. Die einen brabbeln unsinniges Zeug, da ist das Oberstübchen überhitzt. Andere wimmern. Die meisten Leute sind wie ich: Sie sitzen da, starren vor sich hin, lassen ihre Gedanken treiben und versuchen, irgendwie klarzukommen. Es gibt nämlich kein Wasser mehr, und bei irgendwas zwischen 40 und 53 Grad macht’s der menschliche Körper nicht lange. Das war übrigens schon bekannt, als ich drei oder vier oder fünf Jahre alt war. Es hat die Anzug-Spacken nur nicht interessiert.

Denen ging’s um Macht und Geld. Und wofür? Für nichts! Sie sind tot. Von meiner Generation ermordet, andere haben sich selbst gerichtet, ein paar wenige wurden von der Hitze oder einem der Wirbelstürme, die mehrmals im Jahr über die zerstörte Landschaft ziehen, mitsamt ihrer fetten Karre an irgendeine Wand gepfeffert. Nur wenige der Entscheidungsträger aus den 20ern sind hochbetagt im Schlaf gestorben. Man hätte es ihnen nicht gegönnt, denn sie haben ja auch uns kein Leben gegönnt. Wer sich heute die Videos politischer Reden von damals anschaut, der ballt die Faust in der Tasche und wünscht sich eine Zeitmaschine.

Die einzigen funktionierenden Zeitmaschinen, das sind die Bilder, die Videos, die Bücher und all die anderen Aufzeichnungen. Wie das Foto in meiner Hand: Meine Mutter trägt mich auf ihren Schultern. Sie war sportlich, richtige Schultern auf einem breiten Kreuz. Sexy… darf man das über seine Mutter sagen? Ich obendrauf, speckig und mit verschmiertem Gesicht. Im Hintergrund ein Eiscafé. Das Bild ist verblichen, so wie die Zeiten verblichen sind, aus denen es stammt. Ich möchte weinen, weil es heute keine Eiscafés mehr gibt. Doch das Restwasser in meinem Körper reicht nicht aus.

All diese Erinnerungen, die ich nicht habe: Diese gute Welt, in der sich meine Mutter und mein Vater kennen und lieben lernten. Als die Wiesen noch blühten und der kühle Wind durch die Baumkronen rauschte. Bevor alles verbrannte und von den Stürmen und Fluten zermartert wurde. Wie mag das wohl für die Alten sein? Für die, die diese Welt noch kannten? Man sagt ja: Du kannst nur vermissen, was du kennst.

Ich löse den Blick vom Foto, jemand trägt eine Leiche aus der Halle. Sie werfen den dehydrierten Körper einfach zur Tür hinaus. Als sie die Tür öffnen, strömt die Ofenluft des Tages herein. Die Leute in der Nähe wenden sich ab, ziehen ihre Gesichter ein, wie die uralte Morla, bevor sie Atreju vom Baum rotzt. Was bin ich froh, nicht so nah an der Türe zu sitzen. Draußen flimmert die Luft, der Asphalt wirft gemütlich seine Blasen. Da sind mal Autos gefahren? Ich kann nur lachen: Die würden im weichen Asphalt untergehen, wie Artax in den Sümpfen der Traurigkeit. Tja… diese Welt ist eine unendliche Geschichte des Niedergangs.

Die Tür ist wieder zu. Die Leiche liegt hinter dem schmierigen Glas auf einem kleinen Leichenhäufchen. Am späten Abend werden sie abgeholt und am Stadtrand verscharrt, doch tagsüber kann niemand arbeiten. Wahrscheinlich werden sie auch mich eines Tages abholen. Vielleicht schon morgen. Oder ich kippe auf der Straße um, nachts auf dem Heimweg in die Bude, die dann noch immer an den 40 Grad kratzt. Das sind die normalen Gedanken, wie jeden Tag. Karrierepläne hab ich keine. Ich hab nur Angst vor der Tageshitze.

Ich schiebe den Gedanken beiseite, er ist wertlos, er bringt mich nicht weiter. Mein Blick schleicht durch die Halle. Einst war sie ein Shoppingcenter. Dreistöckig und weitläufig, voller Geschäfte und kleinen Snackbars. Hier hatte sich die unterwürfige Variante des Homo sapiens getummelt. Das Vollstopfen übergroßer Tüten mit Fummel, den man nur zwei oder drei mal tragen würde. Oder mit Technik, die beim Verlassen des Gebäudes schon wieder veraltet gewesen war. Noch ein kleiner Abstecher zum Nagelstudio und einen fetttriefenden Burger in die Fresse. So wurde man hier glücklich gestanzt.

Heute sammeln sich in diesen unheiligen Hallen die armen Schweine, die – wie so viele! – keine Klimaanlage besitzen und in den Schächten unter der Stadt keinen Platz mehr gefunden haben. Wo sollen sie auch hin, wenn die eigene Wohnung kocht und der Asphalt an den Füßen klebt? Das ist kein Witz! Tatsächlich hab ich schon gesehen, wie jemand am Asphalt klebengeblieben ist. Beim Laufen, einfach auf der Straße festgeklebt. Losgekommen ist er nicht mehr, denn am nächsten Tag lag dort ein ausgedörrter, eingebackener Toter. Wie Auflauf sah der aus.

Mein Blick streift durch die Halle. Trübes Licht, trübe Menschen, trübe Gedanken. Er bleibt an einer der Stelen hängen, die alle paar Meter aus den Steinfliesen ragen. Triste Quader mit eingelassenen Bildschirmen, die früher wohl mit buntem Glitzer, nackter Haut und viel Wow-Yeah bespielt worden waren. Werbung! Kaufen, kaufen, kaufen! Die Halle war ja ein Kaufhaus gewesen, als sich die Leute noch fürs Kaufen interessieren konnten. Die Höfe am Brühl, gleich um die Ecke hatte Richard Wagner das Licht der Welt erblickt. Der große Wagner, auf den war man stolz!

Heute sind sie grau, die Stelen und ihre Bildschirme. Sie sind sie tot: Die toten Augen vom Brühl.

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Habecks verflixtes „wir“ – Analyse


Im Jahre 2023 gleicht die politische Debatte einer Schulhofschlägerei. Eine der wenigen Ausnahmen ist Robert Habeck, dessen Kommunikation sachlich und (meist) stressfrei daherkommt. Aber wirkt sie auch so, wie es wünschenswert wäre? Ein klares: Jein.

Das Für und Wider einer auf höfliches Miteinander ausgerichteten Kommunikationsform ist in einem Interview auf N-TV mit Robert Habeck besonders anschaulich – daher will ich einen Ausschnitt aus diesem Interview meiner knallharten Analyse unterwerfen. Besagter Ausschnitt als Screenshot:

Schon der erste Satz ist pures, kommunikatives Gold mit einem mikroskopischen Schönheitsfehler: „Bis heute spüren wir die Folgen der hohen Abhängigkeit von russischen fossilen Importen.“ Dieser Satz suggeriert die Schuld bei den vorherigen Regierungen, was ja auch sachlich richtig ist. Nicht „wir haben es verbockt“ sondern „wir spüren die Folgen“. Abhängigkeit ist dabei das Gegenteil von Freiheit, Habeck macht mit diesem Satz sowohl CDU als auch SPD (GroKo) subtil wie treffend einen freiheitsberaubenden Vorwurf, den sich diese beiden Parteien auch bei sachlicher Betrachtung gefallen lassen müssen. Populistisch angreifbar ist dieser Satz kaum – außer man schreit „Lüge!“ wie ein kleines Kind (z.B. Hubert Aiwanger). Der Schönheitsfehler liegt in den „…russischen fossilen Importen“. Für Menschen, die für Populismus anfällig sind, ist diese Beschreibung etwas zu kompliziert – oder zumindest nicht griffig genug. Hier wären die Schlagworte ideal gewesen: „…russischem Gas, Öl und Uran“. Gerade die Nennung von Uran hätte ein interessantes Schlaglicht auf das (ebenfalls sachlich ziemlich hirnrissige) Geschrei nach einer Rückkehr zur Kernenergie bedeutet. Dieser Satz bekommt also eine 1, aber keine 1 mit Sternchen.

Die Bestnote holt Habeck im Folgesatz: „Aber wir haben uns im vergangenen Jahr gemeinsam mit unseren Unternehmen gegen die Energiekrise gestemmt – und zwar erfolgreich“. Wieder wird die Gemeinschaft von Politik und Bevölkerung beschworen, die Wirtschaft („…gemeinsam mit unseren Unternehmen…“) wird vom Wirtschaftsminister (sic!) ebenfalls ins mentale Boot geholt. Die Kernaussage dieses Satzes ist eine weitere Ohrfeige für CDU und SPD, denn sie besagt, dass wir (Habeck und die Grünen sind Teil von diesem „wir“) stärker sind als die Probleme, die uns die vorherigen Regierungen hinterlassen haben. Weil: „…und zwar erfolgreich“. Geschickt baut der Satz auf das bisher Gesagte auf und schlägt eine Brücke zum Folgesatz. Zu bemängeln gibt es nichts. Daher lieber Robert, kriegst du für diesen Satz eine 1 mit Sternchen.

Es folgt: „Und das wird auch im Ausland mit hohem Respekt verfolgt“. Unabhängig davon, ob die Behauptung der Realität entspricht, kann man das kommunikativ so stehen lassen. Der Satz unterstreicht die Sichtbarkeit „unseres“ Tuns, was uns allen schmeichelt. Nicht schlecht. Natürlich sollte es „mit großem Respekt“ und nicht „mit hohem Respekt“ heißen. Daher gibt es eine 2 minus.

„Wir haben gute Betriebe, es kommen relevante Investitionen und Ansiedlungen nach Deutschland. Wir sind ein starker Standort“. Hier geht Habeck etwas ins Detail. Kann man machen, ist auch seine Art. Je nach Leserschaft macht das mehr oder weniger Sinn. Hier macht es Sinn. Auffällig ist, dass nun schon das dritte und vierte „wir“ in bisher fünf Sätzen auftaucht. Das stört aber nicht, denn genau darum geht es ja im Subtext der gesamten Antwort: Der Zusammenhalt von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft im Lande. Nichts Virtuoses, keine besonders wirkungsvolle Ergänzung, aber eine stimmige und fehlerfreie Vertiefung des bisher gesagten. Noch eine 2, lieber Robert, diesmal die glatte Variante.

Nun wird es etwas spannender, bevor wir zum kritischen Finale kommen: „Aber ja: Die Herausforderungen sind groß, die strukturellen Probleme der letzten Jahrzehnte – Fachkräftemangel, Demografie – schlagen jetzt zu Buche“. Habeck redet von „Herausforderungen“ und „Probleme(n)“, was (fast) synonym verwendet wird. Der Satz könnte auch heißen: „Aber ja: Die Probleme sind groß, die strukturellen Herausforderungen der letzten Jahrzehnte – Fachkräftemangel, Demografie – schlagen jetzt zu Buche“. Trotz der synonymen Verwendung ist es geschickt, von „Herausforderungen“ und „Probleme(n)“ zu sprechen – Habeck spricht damit sowohl problem- wie auch lösungsorientierte Charaktere an. Mit dem Hinweis auf die „letzten Jahrzehnte“ wird die Schuld noch einmal auf die Vorgängerregierungen projiziert, was keineswegs unnötig ist: In sprachlich anderer Form wird das Bild verstärkt, ohne nach einer nörgelnden Wiederholung zu klingen. Dieses Bild erzeugt Habeck mit den letzten vier Worten („schlagen jetzt zu Buche“) – sachlich korrekt, vom rhetorischen Aufbau her sehr wirkungsvoll. Da gerade die damals federführende CDU nicht aufhört, vor allem die Grünen mantraartig für so ziemlich jeden quersteckenden Furz verantwortlich zu machen, ist eine solche Parade nur recht und billig. Habeck selbst zeigt sich dabei als jemand, der Ursachen benennt und dabei lösungsorientiert denkt und agiert. Daher auch hier eine 1 mit Sternchen.

Habecks verflixtes „wir“

Kommen wir zum letzten Satz, mit dem leider einiges von dem, was bisher so geschickt und treffend aufgebaut wurde, beträchtlichen Schaden nimmt: „Und wir waren zu langsam beim Ausbau der erneuerbaren Energien und haben zu zögerlich in die Zukunft investiert“.

Leider erwartbar, kommt Habeck auch dann nicht von seinem kuscheligen „wir“ los, wenn es sowohl inhaltlich wie auch kommunikativ daneben ist. Anstatt einen wirkungsvollen Punkt zu setzen, dreht er einen elementaren Teil seiner bisherigen Aussagen ins Gegenteil: Die Vorgängerregierungen haben uns große Schwierigkeiten hinterlassen, die wir nun (gemeinsam!) lösen. Stattdessen sind nun „wir“ plötzlich schuld, dass CDU und SPD die Energiewende nicht nur zu langsam vorangetrieben haben – sie haben die Energiewende vorsätzlich sabotiert. Trotzdem zieht Habeck sich und uns (Bundesregierung, Bevölkerung, Wirtschaft des Jahres 2023) diesen Stiefel an – ohne Not, wohlgemerkt.

Es ist bekannt, dass Robert Habeck nicht der Typ ist, der andere öffentlich in die Pfanne haut – eine charakterliche Stärke, die im Umfeld einer populistischen Debattenkultur zur kommunikativen Schwäche wird. Ein inhaltlich wie meinungsbildend viel sinnvollerer Satz wie „Und die GroKo hing zu sehr am fossilen Tropf, um in den Ausbau erneuerbarer Energien – und somit in die Zukunft zu investieren.“ wird von ihm leider nicht zu hören sein. Doch selbst ein „Und es wurde zu langsam beim Ausbau der erneuerbaren Energien und zu zögerlich in die Zukunft investiert.“ wäre gerechtfertigt und auf allen Ebenen richtiger gewesen. Durch die Vergangenheitsform wäre klar, wer hier die Verantwortung trägt, ohne CDU und SPD direkt zu benennen.

Letztlich schwächt der letzte Satz den gesamten Absatz. Er schlägt sich quasi selbst auf den Nacken und bekommt daher eine mangelhafte 5.

Summa summarum

Sprache ist wie eine Bergwanderung: Du kannst viele gute Schritte gehen – doch geht der letzte Schritt daneben, stürzt du ab. Abgestürzt ist Robert Habeck am Ende nicht, doch hat er sich ganz dolle die Knie aufgeschürft und seine Wasserflasche verloren. Und das kurz vorm Gipfel. Daher würde ich den gesamten Absatz mit einer anschaulichen 4 benoten. Denn er zeigt uns sehr gut, wie ein einzelner Aspekt dem Gesamtbild schaden kann: 1, 1*,2-, 2, 1*, 5 ergibt zusammen eben keine 2- sondern eine schwache 4.

Aber halt – was war nochmal die Frage? „Wie viel Strahlkraft hat Deutschland als Volkswirtschaft, wenn wir beim Wachstum derzeit auf dem letzten Platz der OECD-Staaten stehen?“ Die Fragestellung sollten wir in die Benotung mit einfließen lassen. Und da muss man Habeck Respekt zollen, denn eine bohrende, bananenschalenartige Frage so zu meistern, gelingt nicht jedem. Lassen wir die Probleme mit dem letzten Satz außen vor, dann hat Habeck eine klare, problembewusste und trotzdem positiv gestimmte Antwort folgen lassen, die den implizierten Vorwurf der Frage selbst („auf dem letzten Platz der OECD-Staaten“) fast vergessen machen lässt. Daher möchte ich meine Benotung revidieren und dem Gesamtwerk eine akzeptable 3 verpassen.

Rhetorik geht besser, wie uns die zauberhafte Rede Heinrichs V. zum St.-Crispianus-Tag aus Shakespeares Feder zeigt. Zugegeben, Robert Habeck ist weder Wilhelm Shakespeare noch Kenneth Branagh (auch wenn es optische Ähnlichkeiten gibt). Doch von den Meistern lernen war noch niemandem verboten…

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Die (mentalen) Grenzen des Wachstums


Der Homo sapiens ist – wie fast alle Tiere – auf Wachstum ausgelegt: Im natürlichen Umfeld ständigen Gefahren ausgesetzt, muss eine Gruppe stetig gegen Tod und Verlust wachsen, um sich eine gesunde, überlebensfähige Größe zu erhalten. In einer archaischen Welt dient der Wachstumstrieb¹ somit als ausgleichendes Regulativ der natürlichen Balance. Kurz gesagt: Die Natur gibt, die Natur nimmt.

Doch unsere Welt ist nicht mehr gesund. Der Homo sapiens hat sich allem natürlichen Schwund entledigt: Die Prädatoren, die uns gefährlich werden können, sind nahezu ausgerottet, gegen Wind und Wetter helfen Haus und Kleidung, Medizin heilt Krankheiten, Bildung lässt uns Gefahren vorhersehen und selbst den Hunger haben wir (zumindest mit Blick auf die Masse produzierter Lebensmittel) längst besiegt. Die Natur nimmt nicht mehr. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, diese Welt zu erobern, zu beherrschen und letztlich auszuweiden wie ein wehrloses Kalb bei Tönnies in der Schlachtfabrik. Denn obwohl wir nicht mehr gegen das Sterben anwachsen müssen, müssen wir wachsen, wachsen, wachsen!

Dieses Müssen steckt in unseren Köpfen. Man könnte es sich nun leicht machen und sagen: „Der Kapitalismus muss wachsen!“ Damit haben wir einen Schuldigen gefunden, können ihn bekämpfen und müssen nicht tiefer blicken. Doch was macht dieser Kapitalismus? Er entgegnet uns: „Wieso ich? Die Ägypter, Inka, Maya, Römer, Hunnen, Fridays For Future, der FC St. Pauli, jede Partei, die Sowjetunion und ihr gestörter Nachfahre (Putin)… hatten und haben doch einen ebensolchen Wachstumstrieb. Gut für mich, dass es ihn gibt – mehr hab ich damit nicht zu tun.“ Leider hat der Kapitalismus mit diesem kurzen Einwurf recht.

Artspezifische Verhaltensweisen können beim Individuum sehr verschieden ausgeprägt sein. Nehmen wir die Asexualität als Beispiel: Hier ist ein elementarer Trieb (der Sexualtrieb) fast vollständig zum Erliegen gekommen. Zoomen wir wieder heraus und betrachten Menschengruppen, dann fällt auf, dass ab einer gewissen Größe der Gruppe die artspezifischen Verhaltensweisen mehr und mehr zur Entfaltung kommen. Auf unser Thema gemünzt heißt das z.B.: Selbst ein Degrowth-Festival will wachsen, denn das Wachstum liegt in unserer Natur.

Da haben wir nun ein „Growing of Death“ angestoßen, das sich gewaschen hat. Wie sehr uns das stabile Klima und eine ebensolche Artenvielfalt just in diesen Jahren (geschrieben 2023) verloren gehen, ist in Worten (selbst in Zahlen) nur schwer auszudrücken. Sagt man die Wahrheit, dann klingt sie so: „Wir verlieren den Planeten!“ Sagt man es ein bisschen weniger pathetisch, dann heißt es: „Die Erde verliert ihre Fähigkeit, uns eine Heimat zu sein.“ Und damit ist der Nagel auf den Kopf getroffen.

Was dem – wenn überhaupt – entgegenzusetzen ist, liegt auf der Hand: Der Mensch muss seinen Fußabdruck auf dem Planeten verkleinern. Mehr Raum für die Natur ist neben all den notwendigen technischen Lösungen ein Kernelement einer sozial-ökologischen Wende. Sei es mehr Grün in den Städten (Stichwort: Schwammstadt), sei es Bio-Gemüse statt Antibiotika-Hack, sei es mit Muskelkraft statt Dieselantrieb von A nach B zu kommen. Oder wir machen weiter wie bisher und lassen uns blöd und schuldig von einer Gewalt überrollen, der wir dann gar nichts mehr entgegenzusetzen haben. Es bleiben also zwei Optionen: Der geordnete Rückzug oder ein ungebremster klimatisch-ökologischer Kollaps.

Was sich für uns wie ein allmächtiges Zeitalter der Herrschaft des Homo sapiens anfühlt, war letztlich nicht mehr als ein Wimpernschlag: Das kurze, bockige Zucken einer seltsamen Laune der Evolution. Wir kehren nun zurück in eine Zeit, in der die Natur spürbar mächtiger ist und wir uns mit dieser Macht arrangieren müssen – eine nahezu verlorene Kompetenz. Nehmen wir diese Menschheitsaufgabe an, dann heißt es auch für unsere Köpfe: Weg vom ungebremsten Wachstum, weg vom Asphaltieren und Beherrschen. Zurück zu einem Miteinander zwischen der Natur und uns selbst – einem von millionen Zahnrädchen im gesamten ökologischen Gefüge.

Denn die Natur gibt, die Natur nimmt. Das war schon immer so…

¹) Im Gegensatz zu so manchem Trieb, ist dieser nicht als psychologischer Fachbegriff misszuverstehen.

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Gesprächstaktik nach Herbert Diess


Herbert Diess ist nicht nur ehemaliger Vorstandsvorsitzender des VW-Konzerns, er ist auch ein Mann, der ganz offensichtlich einen großen Werkzeugkoffer voller Gesprächs- und Verhandlungstaktiken besitzt. Eine besonders destruktive Taktik bekam nun Maja Göpel zu spüren.

Wer diskutiert, will im besten Falle auch etwas vom Gegenüber lernen. Trotzdem ist in jeder Diskussion auch ein gewisser Durchsetzungswille Teil der Gesprächsführung, sonst würde man ja nur zuhören und nicht diskutieren. Abgesehen von der weit verbreiteten (und sehr vielfältigen) Scheinargumentation, sind die meisten Gesprächstaktiken mehr oder weniger zielführender Natur. Sie wollen also nicht auf Teufel komm raus gewinnen, sie dienen einem möglichst haltbaren Ergebnis.

Steht jedoch als Motivation das Gewinnen der Diskussion weit vor dem Interesse am Erkenntnisgewinn, so kommen vermehrt destruktive Methoden zum Einsatz. Ein solcher Einsatz zeigt letztlich auch argumentative Schwächen auf, denn nur wer mit fairen Mitteln zu scheitern droht, versucht sein Gegenüber mit unfairen Mitteln auf die eigene Schwächeposition herunter zu ziehen. Am 10. November 2022 gab es im ZDF einen exemplarischen Moment, den ich hier kurz aufzeigen möchte. Die angewandte Technik nenne ich:

Plattfahren nach Herbert Diess

Was ist passiert?

Maja Göpel, ihres Zeichens Transformationsforscherin mit der heutzutage so wichtigen Wissenschaftskommunikation als einen Schwerpunkt, hatte versucht, den Vorteil einer weniger gewinnorientierten Wirtschaft für die Menschen zu beschreiben. In Relation zum drohenden klimatischen und ökologischen Kollaps ist dieser Gedanke nicht nur vernünftig, er ist – und hier sei zähneknirschend Angela Merkel zitiert – alternativlos. Die Argumente sind stichhaltig, die Argumentationslinie muss im Spannungsfeld von Klimaschutz und Wirtschaftswachstum natürlich in mehreren Schritten gegangen werden. Maja Göpel ging diese Schritte klar und nachvollziehbar.

Das passt einem Manager der alten Gewinnmaximierungsschule a lá Herbert Diess natürlich nicht. In einem nicht-öffentlichen Gespräch hätte er Maja Göpel wahrscheinlich aufmerksam zugehört: Als erfolgreicher Manager gehört es zu seinem Beruf, sich mit Gegenpositionen möglichst konstruktiv auseinanderzusetzen und – strategisch wichtig! – diese auch zu verstehen. Doch bei Markus Lanz darf Göpel vor einem Millionenpublikum ausführen, warum wir das Goldene Kalb der ewig wachsenden und in Billiglohnländer expandierenden deutschen Autoindustrie schlachten müssen. Das konnte Diess schlecht zulassen, was zu folgender kleinen Szene geführt hat. Achten Sie darauf, was Diess macht:

Was fällt auf?

Diess hat allen Aussagen von Maja Göpel zugestimmt, selbst die wenigen „Neins“ waren eine inhaltliche Zustimmung, quasi ein Unterstreichen der „Neins“ von Maja Göpel. Man kann Herbert Diess daher keine böswillige Störung vorwerfen – trotzdem war es genau das.

Gelegentliche zustimmende (oder ablehnende) Wortmeldungen in einem laufenden Vortrag sind im Rahmen von Diskussionen und Verhandlungen keine Besonderheit. Hier wurde dieses Element („Ja … ja … ja …“) jedoch in einer Penetranz eingebracht, die aufhorchen lässt: Durch die permanente Unterbrechung könnte man meinen, dass er darauf abzielt, Maja Göpels Redefluss ins Schleudern zu bringen. Diess muss allerdings wissen, dass Göpel so leicht nicht aus dem Tritt zu bringen ist – wüsste er es nicht, wäre er schlecht vorbereitet oder schlichtweg von Arroganz geblendet. Diess ist ein aufmerksamer Gesprächspartner, ein solcher Lapsus wäre unwahrscheinlich.

Was bleibt?

Es ist davon auszugehen, dass Herbert Diess einfach wollte, dass möglichst wenige Zuschauerinnen und Zuschauer Maja Göpels Ausführungen folgen konnten. Letztlich ist es für Diess egal, warum Göpels Argumentationslinie beim Publikum nicht ankommt (ergo: ob sie oder das Publikum den Faden verliert), sondern dass sie nicht ankommt – oder zumindest nur lückenhaft. Dazu sei noch gesagt, dass Diess nicht nur durch sein stetiges Stören den Argumentationsfluss hemmte, sondern auch durch die Absurdität des Moments die Aufmerksamkeit auf seine kleine Sprechroboter-Show lenkte – weg von Göpels Ausführungen.

Ganz unabhängig davon, wie erfolgreich Diess bei einzelnen Zuhörerinnen und Zuhörern war: Herbert Diess hat eine gangbare destruktive Taktik schamlos und wirkungsvoll angewandt. Diskussions- und verhandlungstaktisch ist das durchaus spannend und nicht zuletzt ein anschauliches (und daher lehrreiches) Beispiel. Bei dem aber, was für uns alle auf dem Spiel steht, wenn wir uns einer tiefgreifenden und möglichst sofortigen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft verweigern, war das Auftreten von Herbert Diess auf eine nahezu erbärmliche Art und Weise asozial.

Oder: Er hat zu viel Sekt und Häppchen vor der Sendung zu sich genommen, was bekanntlich zu geistiger Flatulenz führen kann…

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Bias in der Klimablase


Wer sich mit der Klimakrise befasst, wird mit den absonderlichsten Vorwürfen konfrontiert. Doch auch innerhalb der Blase lässt die Argumentationslogik manchmal zu wünschen übrig – oftmals geht es dabei um die öffentliche Kommunikation.

In diesem Artikel möchte ich ein paar solcher Denkfehler aufzeigen. Nicht als Gemeckere (auch wenn der Ärger mal raus muss), sondern als konstruktiver Kompass für die Zukunft, werden hier mehrere Beispiele diskutiert, die entweder in schöner Regelmäßigkeit auftauchen, und/oder in der Schwere ihrer Fehlleistung für größeren Schaden an der Klimadebatte sorgen können. Aber der Reihe nach…

FALSCH: Wir haben noch eine realistische Chance für 1,5°

Beginnen wir mit dem härtesten Brocken, der da heißt: Nein, es gibt keinen realistischen Pfad mehr, in dem wir als Menschheit die Erderwärmung dauerhaft unter der magischen Grenze von 1,5° halten können. Selbst das Umweltprogramm der Vereinten Nationen kommt zu dieser Schlussfolgerung¹. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Die absurde Geschwindigkeit, mit der die Weltgemeinschaft alle Emissionen stoppen müsste, wie auch die massiven Investitionen in eine globale Carbon-Capturing-Industrie, sollen hier beispielhaft genannt werden². Zudem entzieht sich die Komplexität der Kippelemente³ einer genauen Prognose, so dass diese nur unzureichend in die Klimaprognosen eingearbeitet werden können, manche kommen daher schlicht on top. Ein weiteres großes Pfund ist die Menschheit selbst, die mitnichten im nötigen Umfang die Schwere unserer Probleme zu verstanden haben scheint – selbst in einem aufgeklärten Land wie Deutschland sprechen die Rekordwerte an Autozulassungen⁴ eine deutliche Sprache. Von klimafeindlichen Strömungen in Politik und Wirtschaft ganz zu schweigen.

Als Menschen tun wir uns sehr schwer, beängstigende Realitäten zu akzeptieren. Gerade in der Klimaszene ist das Narrativ der 1,5° nicht nur für die Außenkommunikation sehr wichtig, es gibt auch intern Halt und Hoffnung. So ist es auf der emotionalen Ebene nur zu verständlich, dass sich mancherlei Aktive sehr schwer damit tun, dieses Narrativ über Bord zu werfen – es kommt einem fatalen Scheitern gleich, als würde man sich auf der Titanic beim Pumpen von Wasser eingestehen, dass das Schiff letztlich sinken wird. Es ist also sehr schwer, von diesem Narrativ zu lassen, und es scheint ein inneres Festhalten zu sein, das die Außenkommunikation oft steuert. Persönliche Gefühle sollten jedoch (in der Klimadebatte) niemals zu unsachlicher Außenkommunikation führen – die Leugner versuchen uns mit allen Mitteln als Paniker zu degradieren, dem dürfen wir mit falschen Angaben nicht Vorschub leisten. Wie fadenscheinig die Begründungen dann sind, das sehen wir gleich.

FALSCH: 1,5° verloren = alles verloren

Wir laufen schnurstracks in ein ökologisches Desaster, selbst die heute 40-Jährigen werden noch eine Welt erleben, die so sehr aus den Fugen geraten ist, wie wir es uns heute nur schwer vorstellen können. Selbst das Aussterben der Menschheit wird mittlerweile als realistisches Szenario gewertet⁵. Da die Marke von 1,5° eine Schwelle beschreibt, ab der wir mutmaßlich einen umfänglichen Kontrollverlust erleben werden, diese 1,5° jedoch nicht mehr realistisch sind, könnte man nun ableiten, dass sowieso alles verloren ist. Was aber ist dieses „alles“ und warum ist es Quatsch?

Kontrollverlust bedeutet nämlich nicht, dass wir gar nichts mehr beeinflussen können. Warum? Einerseits sind der technischen Kreativität des Menschen nur wenige Grenzen gesetzt, so dass es neben Carbon Capturing weitere Optionen zu geben scheint, die uns einen gewissen Zugriff auf die Erderwärmung auch jenseits von 1,5° gewährleisten könnten⁶. Zugegeben, diese Techniken und Methoden⁷ sind keine Gamechanger – auch wenn den Menschen einen tief verwurzelten Drang dazu innewohnt, Problemen mit „der einen“ Lösung zu begegnen. Trotzdem können jene Techniken und Methoden – nicht zuletzt eine Abkehr vom quantitativen Wirtschaftswachstum – wichtige Blüten eines ganzen Blumenstraußes an Lösungen sein, mit dem wir zumindest Teile des Planeten lebenswert erhalten.

Wie schon erwähnt, ist das Verhalten der Menschen eine wichtige Variable in der Gesamtrechnung. Und wie nun leider die Gefahr besteht, dass eine klimatisch und ökologisch kollabierende Welt in Krieg und Gewalt versinkt, so steht dieser Dystopie ein anderer Aspekt des Menschseins gegenüber: Wir sind soziale Wesen. Tatsächlich ist es zwar die größere Frage, wie sich der Planet selbst entwickeln wird. Trotzdem ist die nächste Frage ebenso relevant für unser Leben und Überleben: Wie gehen wir in einer solchen Welt miteinander um? Und hierauf haben wir sehr wohl einen dauerhaften Einfluss.

Die Gefahren sind also groß und zurecht sehr beängstigend. Die etwas schwammige „Sicherheitsgrenze“ von 1,5° werden wir nicht einhalten können. Alles verloren ist damit aber keineswegs! Was mich zur nächsten Fehleinschätzung führt.

FALSCH: Jetzt ist es auch egal!

Ich weiß nicht, wie oft ich im Privatgespräch gesagt bekommen habe: „Wir werden es nicht schaffen!“ Gemeint ist: Die 1,5° und eine gewichtige Restkontrolle über unser Planetensystem zu (be)halten. Dieselben Leute sagen in der Öffentlichkeit aber oftmals etwas gänzlich anderes: Sie propagieren das Ringen um die 1,5° und kämpfen öffentlich für etwas, das sie persönlich schon aufgegeben haben. Ich rede hier vor allem von Wissenschaftler*innen, die einen guten Einblick in das Thema haben. Aber warum tun sie das?

Eine wahrscheinliche Erklärung ist so einfach wie strategisch unklug: Die Sorge, dass unsere Gesellschaft in einen „Nach mir die Sintflut!“-Modus schaltet, wenn sie mit dem tatsächlichen Stand der Klimakrise konfrontiert wird. Als Gedankenimpuls verständlich, möchte ich hier auf den vorherigen Aspekt verweisen: Es ist eben weiterhin die Frage, wie schlimm das ganze Schlamassel wird. Und hier zählt eben die Schärfe und Schnelligkeit der Reaktion, die man natürlich nur mit dem Hinweis auf die Schärfe und Schnelligkeit des Problems effektiv erzeugen kann. Wie ein Raucher mit Krebs im Anfangsstadium keine Not zu einer Veränderung erlebt, wenn er sich halbwegs gesund wähnt.

Entscheidend ist allerdings, dass man nicht nur die Apokalypse beschreibt, sondern eben auch unseren Einfluss auf ihre Drastik, sowie konkrete Lösungsmöglichkeiten. Wobei die Lösungen nicht unbedingt als Lösungen kommuniziert werden sollten (denn das sind sie nicht), sondern als Abschwächungen der klimatischen und ökologischen Katastrophe – ergo: Erst der Schock, dann die Hoffnung. Wenn allerdings selbst Wissenschaftler*innen aus einer diffusen Angst heraus die Wahrheiten schönfärben, dann machen sie sich angreifbar – und damit nicht zuletzt die so wichtigen Ergebnisse der Klimaforschung selbst.

FALSCH: Oktober 2022 war der wärmste seit 1881

Der Oktober 2022 „wird wohl der wärmste Oktober seit 1881“ schrieb der wirklich großartige Özden Terli auf seinem Twitter-Kanal⁸. Normalerweise kommuniziert Terli sehr konkret und unmissverständlich, dieser (kleine!) Fauxpas ist jedoch sehr anschaulich – denn analoge Fehler werden immer wieder gemacht. Dabei müssen wir den Kopf aus der klimaschlauen Blase ziehen und uns fragen, wie wirkt das auf die vielen Menschen, die deutlich weniger Ahnung haben? Und vor allem auf die, die deutlich weniger Ahnung haben wollen? Genau: Der Oktober 1880 war wärmer als der im Jahre 2022 – obwohl das gar nicht stimmt!

Seit besagtem Jahr 1881 werden in Deutschland die Mittelwerte für Temperaturen berechnet⁹. Das heißt, wenn von Rekorden seit 1881 die Rede ist, dann meint das tatsächlich „seit beginn der Aufzeichnungen“. Obwohl also das Jahr 1881 deckungsgleich mit dem Aufzeichnungsbeginn ist, können diesen Zusammenhang nur Menschen verstehen, die ihn auch kennen. Für alle anderen bedeutet obige Aussage etwas überspitzt formuliert: „1880 war der Oktober ja eh schon wärmer als heute, das ist also ganz normal und den Klimawandel gibt es nicht, weil das Klima hat sich ja schon immer gewandelt, bal bla bla…“

In den Händen von bewussten Klimaleugnern sind solcherlei fehlerhaften Verkürzungen eine wirksame Waffe gegen das Überleben. Also bitte Vorsicht mit den Formulierungen, denn einmal in die Welt gesetzt, treffen sie nicht ausschließlich auf Menschen mit einer gewissen Expertise. Vor allem sind es ja die Ahnungslosen, Blinden und Desinteressierten, die wir dringend erreichen müssen. Und da ist die Aussage „…seit Beginn der Aufzeichnungen…“ nicht nur sachlich korrekter, sondern auch auf der Ebene der rhetorischen Überzeugungskraft das deutlich schärfere Schwert.

FALSCH: Die Attributionsforschung schafft Tatsachen

Ähnlich verhält es sich mit der Attributionsforschung¹⁰, die ich hier kurz beschreiben will: Dieser Zweig der Klimaforschung ermittelt anhand von Datensätzen und Vergleichen die Wahrscheinlichkeit, mit welcher…
· ein vergangenes Ereignis dem Klimawandel zugeordnet werden kann
· Ereignisse zukünftig in der jeweiligen Region auftreten werden
Es geht hierbei also um das Errechnen von Wahrscheinlichkeiten, mit Blick in Zukunft oder Vergangenheit.

Wir haben es also mit Statistiken zu tun, die – so ehrlich muss man bei der Komplexität des Klimasystems sein – auf unvollständige Datensätze beruhen. Das bedeutet nicht, dass die Attributionsforschung nicht wertvoll wäre. Ganz im Gegenteil, gerade mit Blick auf zukünftige Wahrscheinlichkeiten rückt sie vollkommen zurecht immer mehr in den Fokus – schließlich können wir den Klimawandel nur noch bremsen und müssen daher auch die Prophylaxe mehr und mehr im Auge behalten. Hierbei ist die Attributionsforschung ein wichtiger Kompass.

Nun sind mir schon mehrmals Aussagen folgender Art begegnet: „Die Dürre in Madagaskar¹¹ hat nichts mit dem Klimawandel zu tun. Das zeigt die Attributionsforschung.“ Leider sind solche Aussagen unzulässige Verkürzungen einer Beschreibung von Wahrscheinlichkeiten, denn wir müssen klar zwischen Fakt und Wahrscheinlichkeit unterscheiden: Wahrscheinlichkeiten sind der freie Raum zwischen den beiden Polen „ist faktisch richtig“ und „ist faktisch falsch“. Je mehr sich eine Aussage einem dieser Pole nähert, desto signifikanter (wahrscheinlicher in ihrem Wahrheitsgehalt) wird sie. Im Rahmen der Wahrscheinlichkeiten wird sie jedoch niemals zum Faktum. Es ist nämlich ein qualitativer Unterschied, ob man von einer Wahrscheinlichkeit spricht (und sei diese 99,9…%) oder von einer Tatsache, während zwischen 13,5% und 87,55% Wahrscheinlichkeit zwar ein höherer Wert, jedoch nur ein quantitativer Unterschied liegt: „Richtig“ oder „falsch“ ist in keinem dieser Fälle gesichert.

In Sachen Extremwetterereignisse kommt noch eines erschwerend hinzu: Ganz unabhängig davon, wie wahrscheinlich heutige Einzelereignisse auch ohne die Klimakrise wären, ist doch davon auszugehen (also: sehr, sehr, sehr wahrscheinlich), dass die großflächigen klimatischen Veränderungen der in diesem Jahrtausend durchaus eine Auswirkung auf das Auftreten jeglicher (!) Wetterereignisse haben – sei es in der Intensität, in der Häufigkeit oder in ihrem kalendarischen Auftreten. Dies macht folgende Aussage faktisch falsch: „Die Dürre in Madagaskar hat nichts mit dem Klimawandel zu tun. Das zeigt die Attributionsforschung.“ Die Zauberworte heißen Wahrscheinlichkeit und Näherungswert.

Die Klimaveränderungen sind also als Einfluss – welcher Dimension auch immer – auf heutige Extremwetter faktisch nicht mehr auszuschließen. Ein (mir leider nicht mehr geläufiger) Klimaforscher hat hierzu einen schönen Satz gesagt: „Jedes heutige Wetterereignis trägt die DNA des Klimawandels in sich.“ Leider wahr, wie so vieles in der Klimakrise.

FALSCH: Man muss die Menschen immer mit positiven Narrativen abholen

Nichts gegen positive Narrative. Allerdings auch nichts gegen Ehrlichkeit im Angesicht der drohenden Katastrophen. Aber wie passt das zusammen? Das Zauberwort ist eben nicht das ODER sondern das UND. Die Reihenfolge könnte dann ungefähr so aussehen:

1. Problem unmissverständlich klar machen (Schock!)
2. über das Problem informieren (Wissensbasis schaffen)
3. Lösungsmöglichkeiten aufzeigen (zum Handeln aktivieren)

Das positive Narrativ – hier an dritter Stelle (Lösungsmöglichkeiten) – hat übrigens einen Haken, der immer bedacht werden sollte. Einfach erklärt: Ganz unabhängig von Klimawandel und Artensterben lassen sich die Menschen viel leichter von einem in Aussicht gestellten Gewinn anlocken, als von Verlust oder einem Nullsummenspiel. Folgende Frage wird also fast immer mit „Ja!“ beantwortet: „Wollen Sie mehr Klimaschutz, wenn dadurch Ihr Kind auch sicherer zur Schule kommt?“ Das ist schön und richtig, blendet aber zwei wichtige Aspekte aus: Hier wünscht man sich zuvorderst einen sicheren Schulweg, der Klimaschutz wird nebenbei mitgenommen. Und, um wieder eine echte Notwendigkeit im nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten zu erwähnen: Den Verzicht.

Stellen Sie doch mal folgende Frage zum Vergleich: „Wollen Sie mehr Klimaschutz, wenn sie dadurch nie mehr in den Urlaub fliegen können?“ Völlig klar, dass hier sehr viel weniger Menschen mitgehen würden, bzw. nicht mitfliegen. Spricht das nun gegen das positive Narrativ? Nein, das Zauberwert heißt UND – in der richtigen Reihenfolge.

FALSCH: Ziviler Ungehorsam ist kein nützliches Werkzeug

Mit diesem recht unsachlich debattiertem Streitpunkt in der Klimablase will ich nun enden. Denn gerade hier geschieht oft etwas sehr Unwissenschaftliches: Fachfremde Wissenschaftler*innen nehmen öffentlich Stellung, ohne sich tiefer in die Materie eingearbeitet zu haben. Dies gilt übrigens vornehmlich für ablehnende Kommentare, die ihrerseits als unbewiesene Behauptungen in den öffentlichen Raum gestellt werden – meist von Naturwissenschaftler*innen, deren Reputation solchen Aussagen dann mehr Gewicht gibt, als sie tatsächlich haben. Schuster, bleib bei Deinen Leisten!

Eine relevanter Faktor ist, dass Natur- und Sozialwissenschaften aufgrund ihres verschiedenen Umfeldes (starre Naturgesetze vs. wechselhafte Gruppen- und Gesellschaftsdynamiken) auch methodisch nicht unbedingt gleich arbeiten¹². Das Sammeln und Auswerten unumstößlicher Daten in den Naturwissenschaften ist als Methodik oftmals nicht auf die Sozialwissenschaften anzuwenden – und vice versa: Die Hermeneutik¹³ hat in vielen Bereichen der Naturwissenschaften nichts verloren. Da wir davon ausgehen sollten, dass es keine mehr oder weniger „wertvollen“ Wissenschaften gibt, sollten bei soziologischen Fragen natürlich die Sozialwissenschaften das letzte Wort haben. Und diese unterstützen gemeinhin die These, dass ziviler Ungehorsam nicht nur ein probates, sondern auch ein wirkungsvolles Mittel für eine schnelle, gesellschaftliche Veränderung darstellt¹⁴.

In Sachen des zivilen Ungehorsams wird oft als Gegenargument ins Feld geführt, dass sich auf diesem Wege schwerlich neue Sympathisanten finden. Dieser „Vorwurf“ ist zwar richtig, nur geht er an der Sache vorbei. Denn ziviler Ungehorsam hat gar nicht das Ziel, in direkter Folge Sympathie und Sympathisanten zu finden. Sein Ziel ist es vielmehr, das Thema des Protests in eine größere gesellschaftliche Debatte hinein zu zwingen. Beispielhaft gesprochen: Weil Greta Thunberg widerrechtlich dem Unterricht fern blieb (auch das war ziviler Ungehorsam), wurden Quaschning, Lesch und Neubauer im so entstandenen Debattenraum zu Markus Lanz geladen¹⁵. Der zivile Ungehorsam hatte sein Thema gesetzt, dadurch neue Räume für Gespräche und Information geöffnet, die in der Folge nicht zuletzt von zuvor ungehörten Wissenschaftler*innen gefüllt werden konnten. Ziel erreicht!

Wenn ziviler Ungehorsam nicht funktioniert, dann deshalb, weil die geöffneten Diskussionsräume nicht gut oder gar nicht bespielt werden – hier sind also die bürgerlichen Akteure gefragt. Die Ablehnung des zivilen Ungehorsams hingegen, in einer Zeit, in der wir mit rasendem Tempo auf eine irreversible Vernichtung unserer Lebensgrundlagen zusteuern, scheint mir viel mehr ein Art mentaler Trutzburg zu sein. Denn würde man gerade aus Sicht der „braven“ Teile der Wissenschaften solcherlei Aktionsformen gutheißen, so müsste man sich natürlich folgende Frage gefallen lassen: „Und warum gehst Du dann nicht selbst auf die Straße?“

Die Antwort könnte übrigens persönliche Gründe innehaben: Angst, Unsicherheit, Krankheit, ein mieses Bauchgefühl. Das ist zwar keine sachliche Begründung (bis auf die Krankheit), aber auch Wissenschaftler*innen sind Menschen, deren Gefühle respektiert werden müssen. Einer Jugend, die um ihr Überleben kämpft, jedoch mit sehr unwissenschaftlichen Gefühlslagen¹⁶ öffentlich die Unterstützung zu versagen, ist nach meiner persönlichen Meinung in der heutigen Lage kaum noch zu rechtfertigen. Dann lieber gar nichts sagen – zumindest nicht zu diesem Thema.

Und nun?

Nun gilt es – denn wir haben keinen Planet B. Es gilt neue, auch unsichere (weil vielleicht noch nie gegangene) Wege einzuschlagen. Und es gilt Risiken auf sich zu nehmen!

Mein in diesem Artikel liegendes Risiko ist, Personen vor den Kopf zu stoßen, denen ich nicht vor den Kopf stoßen möchte. Also einer der Kollateralschäden, die wir im schier aussichtslosen Ringen um eine lebenswerte Welt riskieren müssen: Deinen Ärger, meinen Einfluss, was auch immer. Denn je geringer die Chancen, desto mehr gilt es in die Waagschale zu werfen, und dabei den Realitäten ins Auge zu sehen: Übel enden wird das Ganze sowieso, ein Pfad ohne Druck existiert nicht mehr. Nehmen wir aber den Druck an und nutzen seine Kraft für die gute Sache, dann gibt es Hoffnung!

⁰) „Du linksgrün-versiffter Klimanazi willst die Wirtschaft zerstören, damit du reich wirst, und den Klimawandel gibt es nicht, weil das Klima hat sich schon immer gewandelt, darum heißt ja Grönland auch Grünland, mach dich mal schlau du Klimapanik-Schlafschaf!1!!!11!!1!“
¹) https://news.un.org/en/story/2022/10/1129912
²) Paper der Scientists 4 Future wird demnächst veröffentlicht
³) https://www.pik-potsdam.de/de/produkte/infothek/kippelemente/kippelemente
⁴) https://www.noz.de/deutschland-welt/panorama/artikel/rekord-bei-zulassungen-485-millionen-autos-in-deutschland-43182231
⁵) https://www.cam.ac.uk/stories/climateendgame
⁶) https://www.meer.org/
⁷) https://www.biooekonomie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/moore-als-co2-speicher-renaturieren-und-gleichzeitig-wirtschaften
⁸) https://twitter.com/TerliWetter/status/1585980498920316929
⁹) https://www.quarks.de/umwelt/klimawandel/seit-wann-das-wetter-aufgezeichnet-wird/
¹⁰) https://www.youtube.com/watch?v=JnLgKux60lc
¹¹) https://www.spiegel.de/wissenschaft/duerre-in-madagaskar-nicht-direkt-auf-klimawandel-zurueckzufuehren-a-28901ffa-4254-4b8b-86ed-768cd2e5dfc3
¹²) https://www.philosophie.ch/philosophie-der-sozialwissenschaften
¹³) https://lexikon.stangl.eu/237/hermeneutik
¹⁴) https://www.amazon.com/Poor-Peoples-Movements-They-Succeed/dp/0394726979 / https://interviews-4-future.podigee.io/86-i4f
¹⁵) https://www.youtube.com/watch?v=oLj2jBbMkxI
¹⁶) https://twitter.com/wozukunft/status/1584501956176859136

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Gewaltlosigkeit – ein friedlicher Irrtum


Niemand (außer ein paar geisteskranke Gesellen) wünscht sich Gewalt. Gerade die kriegerische Gewalt, wie wir sie seit Februar 2022 in der Ukraine erleben, ist mit nichts zu rechtfertigen. Da Gewalt schlimm ist, folgt der Ruf nach gewaltloser Intervention auf den Fuß.

Man möchte hier und da mutmaßen, dass dieser Ruf – gerade aus dem rechten Spektrum – eher dem Schutz einer offen faschistoiden Regierung dient, denn dem Wunsch nach Frieden. Das nur am Rande, soll es hier um einen kleinen, aber entscheidenden Irrtum gehen, der gerade in der Friedensbewegung die Runde macht: Man bezieht sich auf Gandhi und meint dabei, die Ukrainer sollten mit den russischen Invasoren ebenso gewaltfrei umgehen, wie es Gandhi mit den britischen Besatzern tat. Die Vernunft würde sich allerdings selbst Gewalt antun, wenn sie dieser Argumentation folgen würde. Warum?

In beiden Situationen haben wir eine fremde Macht im Lande: Hier die Russen in der Ukraine, da die Briten auf dem indischen Subkontinent. Die einheimische Bevölkerung versucht sich in beiden Situationen gegen die fremde Macht zu wehren. So viel zur Ähnlichkeit, schauen wir uns nun die Unterschiede an:

Die Rolle der fremden Macht

In der Ukraine versucht eine fremde Macht von außen, die Kontrolle über das angegriffene Land zu erreichen. Auch wenn Putin gerne davon fabuliert, dass die Ukraine kein eigenständiger Staat sei, so ist sie das doch definitiv. Wir sehen hier also eine Situation, in der das eine Land (Russland) dem anderen Land (Ukraine) seine Freiheit und Selbstbestimmung rauben will – bis hin zur historischen Identität.

In Indien zu Gandhis Zeiten war der Subkontinent schon 200 Jahre lang von den Briten besetzt. Die Briten waren keine Invasoren mehr, sondern als herrschende Macht schlichtweg in die Gesellschaft des Landes eingebunden. Auch wenn das soziale Gefälle deutlich zu Ungunsten der einheimischen Inder in Schieflage war, hatte man sich gesellschaftlich längst arrangiert und stabilisiert. Morgenluft witterte Gandhi durch die immense Schwächung der Briten durch den eben erst beendeten 2. Weltkrieg, der die britische Macht im Vorfeld eben mit Gewalt geschwächt hatte. Diese günstige Gelegenheit – im Grunde eine verbesserte Verhandlungsposition – geriet Gandhi zum Vorteil.

Die Rolle der Einheimischen

Im Gegensatz zur Ukraine, wo ein freies Land unterworfen werden soll, waren die damals lebenden Inder seit ihrer Geburt unfrei. So unrechtmäßig und unschön eine solche Unfreiheit auch sein mag, wurde den Indern nichts weggenommen – sie besaßen diese Freiheit schlichtweg seit 200 Jahren nicht.

Nun setzten die Hindus unter Gandhi der Kolonialmacht mit friedlichen Massenprotesten zu. Wie schon erwähnt, war die Situation dafür sehr günstig, den Status Quo der britischen Herrschaft zu beenden. Doch nicht nur die militärische Schwächung der Briten spielte den Hindus in die Karten, auch der nachhallende Schrecken der wahnwitzigen Gewalt durch den Nationalsozialismus, der sich (bekanntlich) sehr gezielt gegen Bevölkerungen gewendet hatte, kam Gandhi gelegen: Würden die Briten mit Maschinengewehren in die Menge feuern, stünden sie weltweit am moralischen Pranger.

Neben den gewaltfreien Hindus gab es einen zweite Gruppe, deren Anteil an der Beendigung der britischen Besatzung nicht zu unterschätzen ist: Die Muslimliga unter Mohammad Ali Jinnah, aus deren Bestrebungen letztlich der Staat Pakistan hervorging. Der „Streit“ lag zwar vornehmlich zwischen Hindus und Muslimliga, dürfte mit seinen mehr als 1.000.000 Toten die militärisch geschwächten Besatzer aber durchaus unter zusätzlichen Stress gesetzt haben.

Nicht zuletzt setzte sich die Msulimliga durch, als es zur post-britischen Staatenbildung kam: Pakistan entstand gegen den Willen der Kongresspartei, die Gandhi nahestand und gegen diese Teilung war.

Der entscheidende Unterschied

Die Briten sahen sich in Indien als etablierte Mitglieder einer Gesellschaft im eigenen Staatsgebiet. Nach 200 Jahren Kolonialherrschaft fühlten sie sich dort zuhause. Auch die Inder fühlten sich in Indien zuhause, was nur selbstverständlich ist. Das Ringen um die indische/pakistanische Unabhängigkeit war also ein Streit im eigenen Haus. Nun hat niemand etwas davon, wenn man mit roher, militärischer Gewalt nach der Logik eines Vernichtungskrieges im eigenen Haus agiert – weder die Inder noch die Briten. Der gewaltfreie Weg Gandhis (durchaus bevorteilt durch die gewaltsamen Unruhen zwischen Hindus und Muslimliga, sowie die gewaltsame militärische Schwächung der Briten durch den 2. Weltkrieg) war also nur deshalb gangbar, weil sich niemand das eigene Teeservice zerschlagen wollte – also die lebensnotwendige inländische Infrastruktur.

In der Ukraine liegt die Sache im Frühjahr 2022 deutlich anders: Ein Aggressor dringt in ein souveränes Land ein, getrieben von einer vollumfänglichen Vernichtungsideologie – wie sehr der Botox-Onkel im Kreml auch betonen mag, dass die Ukraine kein souveräner Staat sei. Im Gegensatz zur indischen Situation, ist es den Russen schlichtweg egal, wie viele ukrainische Brücken, Krankenhäuser, Schienenwege, Heizkraftwerke usw. zerstört werden. Die Zerstörung geschieht auf fremden Boden – da wütet die russische Armee, als gäbe es kein Morgen – und teilweise ist diese Zerstörung sogar gewollt und für die russische Strategie von Nutzen. Übrigens: Erschreckend analog zum Überfall der Wehrmacht auf Polen.

Der Unterschied zu Polen: Damals hat die Weltgemeinschaft zugesehen und auf einkehrende Vernunft gehofft. Das Ergebnis ist bekannt. Worin sich Polen 1939 und die Ukraine 2022 gleichen – und hier zeigt sich die Absurdität der gewaltfreien Lösung nackt und anschaulich: Auch in der Ukraine findet ein Vernichtungskrieg statt, dessen erklärtes Ziel die Auslöschung eines Staates ist. Damit wird jede Person ausgelöscht, die diesen Staat repräsentiert: Vom führenden Politiker bis hin zum Schulkind mit Ukraineflagge. Ob sich das Land wehrt oder nicht, macht für die Gewaltspirale des Aggressors schlicht keinen Unterschied. Der Unterschied liegt in der Wehrhaftigkeit der Ukraine – mit Waffen und Gewalt zur überlebensnotwendigen Selbstverteidigung.

Schlussfolgerung

Niemand (außer ein paar geisteskranke Gesellen) wünscht sich Gewalt. In der Ukraine stellt sich jedoch allein aufgrund der Art und Weise des Angriffskrieges nicht die Frage, ob oder ob nicht. Die einzige Frage, die sich stellt, das ist die der Dauer und der Schwere der Gewalt. Und die lässt sich letztlich nur dadurch verringern, dass man den Aggressor deutlich spürbar in seine Schranken weist – also die russische Armee zurück nach Russland schickt.

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