2023: Die Angst geht um!


Vor zwei Jahren waren klimaengagierte BĂŒrgerinnen und BĂŒrger noch voller Hoffnung. Ein quasi anti-merkelianisches „Wir schaffen das!“ galt nicht nur als Durchhalteparole – es war eine ernste Überzeugung. Doch das Narrativ bröckelt gewaltig, von schaffbaren 1,5° spricht heute niemand mehr.

Es ist ein typisches Ding, dass wir Menschen die Hoffnung weit in den Bereich schieben, in dem sie im Grunde nicht mehr haltbar ist. FĂ€llt Argument um Argument, werden sie durch Parolen ersetzt: „Wir schaffen das, weil wir es schaffen mĂŒssen!“ Solcherlei Parolen können nĂŒtzlich sein, denn sie packen uns tief im GefĂŒhl und geben uns die Energie fĂŒr ein letztes (oder vorletztes) AufbĂ€umen gegen die ĂŒbermĂ€chtigen WiderstĂ€nde. Mancherlei AufbĂ€umen fĂŒhrt dann tatsĂ€chlich noch zum unerwarteten Erfolg. Auch diesmal?

Es ist viel passiert: Der Klimawandel hat deutlich an Fahrt aufgenommen. Es herrscht ein Krieg in Europa. Die CSU stört sich an WindrĂ€dern mehr als an Aiwangers Gaskammerphantasien. Und wĂ€hrend die Emissionen nach der Corona-Delle weiter steigen, zerfĂ€llt die Welt zusehends in ein gesellschaftliches Chaos. All das ist ernĂŒchternd: Noch nie in meinem Leben bin ich in so kurzer Zeit so vielen verĂ€ngstigten Menschen begegnet, wie im Jahre 2023. Tendenz steigend.

Ein besonderes Beispiel bot Michael E. Mann in einem Twitter-Intermezzo, das im Grunde nicht der Rede wert ist. Und doch zeigt es sinnbildlich, wo wir als Bewegung stehen, wie weit der Kollaps (und das Wissen darum) in Forschung und Bewegung eingedrungen ist und was das mit der Psyche der Menschen macht.

Der ganze Schreckmoment begann mit einer Theorie des renommierten Klimaforschers Michael E. Mann. Mann sagt seit Monaten, dass die Temperaturanomalie im Nordatlantik auf zwei Faktoren rĂŒckfĂŒhrbar sei:

1. ausbleibender Saharastaub
2. weniger Rußpartikel ĂŒber dem Atlantik

Das ist erstmal schlĂŒssig, denn staubgroße Partikel in der AtmosphĂ€re reflektieren Teile des Sonnenlichts zurĂŒck ins All: Sie sind ein Schutzschirm gegen die ErwĂ€rmung. Dieser Faktor kann also nicht ausgeklammert werden. Ob es der einzige Faktor ist, ist bei den weltweit fulminanten Anomalien (u.a. antarktisches Meereis, kalte Zunge, möglicher Super El Niño) in diesem Jahr jedoch unklar. Einen großen Unsicherheitsfaktor sollten wir nicht vergessen: Die Weltmeere haben fast 95% der bisher durch den Treibhauseffekt ins Erdsystem gepumpten Energie absorbiert. FĂŒr einige Zeit war diese gewaltige Menge an Energie (entspricht ca. 3.600.000.000 Hiroshima-Bomben) fĂŒr uns OberflĂ€chenbewohner unsichtbar – verschwunden war sie nicht.

Michael Mann schrieb am 16. August 2023:

Dies als ErgĂ€nzung zur Sand-und-Ruß-These, vermutete Michael E. Mann also, dass der Peak der nordatlantischen Temperaturanomalie am 16.8. erreicht wĂ€re, sich durch die Verschiebung „nach vorne“ also insgesamt ein Ă€hnliches Bild wie die letzten Jahre ergĂ€be. Der Peak 2022 war jedoch erst am 1.9., worauf ich nun in einer Antwort Bezug nahm:

Nach zwei weiteren Tweets (die wenig zur Sache tun) kam mir die Argumentation nicht wirklich schlĂŒssig vor. Es drĂ€ngte sich der Verdacht auf, dass Michael E. Mann so sehr hoffte, dass der Peak schon um den 16.8. erreicht wĂ€re, so dass es dann – um mit dem Kaleun zu sprechen – „psychologisch wurde“. Also ging ich direkt darauf ein – die einzige Aussage auf persönlicher Ebene:

Nun könnte man mehrere Reaktionen erwarten. Oder keine Reaktion. (Dazu sei gesagt, dass sich in den Klimawissenschaften hartnĂ€ckig das MissverstĂ€ndnis hĂ€lt, dass Angst einzig ein hemmender und kein aktivierender Mechanismus sei – von Lea Dohm auf der KlimaFAIR in Leipzig geradegerĂŒckt – weshalb sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oftmals scheuen, die katastrophalen Prognosen öffentlich zu benennen.) Was ich nicht erwartet hatte, war das:

Wow, das war dĂŒnnhĂ€utig!
Da meine Vermutung, der renommierte Klimaforscher belĂŒge sich selbst ein wenig, durch diesen Block natĂŒrlich unterfĂŒttert wurde, war fĂŒr mich klar: Ich warte den 1.9. ab und vergleiche die Sichtweise von Michael E. Mann mit der gemessenen RealitĂ€t. Die entscheidende Frage ist also: Ist die nordatlantische Temperaturanomalie tatsĂ€chlich um den 16.8. stehengeblieben, wurde sie sogar rĂŒcklĂ€ufig… oder kam es zu einem weiteren ErwĂ€rmungsschub?

Was wĂ€re ich froh gewesen, wenn Michael E. Mann mit seiner These recht gehabt hĂ€tte und die Kurve nach unten gegangen… oder zumindest nicht gestiegen wĂ€re. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die rote Linie zeigt den 16.8., die grĂŒne FlĂ€che zeigt die Differenz der Energie, von der wir hier reden. Und die ist unleugbar immens.

Ich schrieb zu Beginn: „Mancherlei AufbĂ€umen fĂŒhrt dann tatsĂ€chlich noch zum unerwarteten Erfolg.“ Doch manchmal fĂŒhrt es auch zu AbsurditĂ€ten zwischenmenschlicher Natur, wenn man die (messbare) RealitĂ€t verdrĂ€ngt und die sich daraus ableitenden Wahrscheinlichkeiten nicht wahrhaben will. So wie es vielleicht einer der renommiertesten Klimaforscher des Planeten nicht wahrhaben wollte, dass die nordatlantische Temperaturanomalie mehr ist als „nur“ eine Verschiebung in der Zeitachse. Denn der Kollaps planetarer Systeme ist der Elefant im Raum, den wir alle bekĂ€mpfen, ohne ihn gegenwĂ€rtig im Raum sehen zu wollen.

By the way: Anders Levermann vom PIK denkt mittlerweile ĂŒber das Versagen eines Strömungsband im AMOC nach.

Ich weiß, ich weiß… ich sollte diesen Artikel mit einer frohen Botschaft schließen. Doch die beste Botschaft kann nur lauten: Vielleicht ist das Jahr 2023 noch nicht der Beginn eines irreversiblen Kollaps planetarer Systeme. Systeme, die wir zum Überleben brauchen. Und all das deckungsgleich mit den Voraussagen der Klimawissenschaften und dem stetigen: „Das haben wir erwartet. Nur nicht schon jetzt!“ Schließt sich die TĂŒre also? Ist sie vielleicht schon geschlossen? Um es mit The Velvet Underground zu sagen:

If you close the door
The night could last forever

Über Dominic Memmel

Eine gesunde Mischung aus Kommunikation & Menschenkenntnis
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