Krisen und Flexibilität


Die Dinge können auf dreierlei Wegen gehen: Den gewohnten Gang (1), den überraschend guten (2) und den überraschend schlechten Gang (3). Das Problem unserer Gesellschaft ist, dass wir scheinbar nichts anderes mehr können, als den gewohnten Gang. Denn der hilft uns heute nicht – der macht es nur noch schlimmer.

Es brennt in der Welt: Kriege ploppen auf, die Klimakrise macht ordentlich Alarm, die Ökosysteme sterben wie die Fliegen und der Faschismus wittert Morgenluft (mit dem Ziel, die Morgenluft mit schwarzem Rauch zu verpesten). Dass wir in einem Zeitalter der Krisen angekommen sind – und dass die Pandemie nur ein Aufgalopp war – sollte den Menschen mittlerweile klar sein. Okay, es gibt auch die kognitiv komplett Ausgehebelten, aber die wählen AfD und BSW und sind unrettbar verloren.

Betrachten wir zuerst das Prinzip einer veränderten Situation: Situation A (z.B. Winter) fordert einen gewissen Umgang mit ihr. Beim Winter können wir z.B. warmen Tee trinken, uns eine flauschige Strickjacke umhängen, miteinander kuscheln und das heimische Lagerfeuer höher drehen. Nun verändern wir die Situation: Aus Winter wird Sommer. Was macht das nun? Praktikabel gesprochen: Saftschorle statt Tee, T-Shirt statt Strickjacke und das Lagerfeuer wird gelöscht (Kuscheln bleibt, nur eben mit weniger Stoff auf der Haut). Würden wir uns in einer veränderten Situation nicht selbst verändern (also unser Verhalten), dann hätten wir ein Problem. Im Winter-Sommer-Beispiel würden wir schwitzen, eventuell sogar kollabieren.

Die Fähigkeit zum Sich-Selbst-Verändern im Angesicht sich verändernder Umstände, das ist die Flexibilität. Und sie ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Homo sapiens: Ohne die Flexibilität im Kopf hätten wir in der wilden Natur nie eine Chance gehabt (wir hätten nie Werkzeug oder Kleidung entworfen). By the way: Die Flexibilität im Magen, die uns eine Vielfalt an Nahrungsquellen eröffnet, ist ebenso eine wichtige Säule der Eroberung (und leider: Unterwerfung) der Welt. Kurzum: Die Flexibilität ist unser wichtigstes Werkzeug in einer sich verändernden Welt!

Wir haben zu Beginn drei mögliche Ebenen des Seins angesprochen:
· den gewohnten Gang (1)
· den überraschend guten Gang (2)
· den überraschend schlechten Gang (3)
Punkt (3) ist die Krise, hier geschehen unerwartete Dinge, die die Sicherheit, Leistungsfähigkeit usw. angreifen oder gar außer Kraft setzen. Im Gegensatz zum Alter, das bekanntlich die körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit angreift und letztlich in den Tod führt, sind Krisen nicht Teil des normalen und erwartbaren Gangs der Dinge. Eine Krankheit kann eine Krise darstellen, je plötzlicher und heftiger, desto krisenhafter. Die Klimakrise ist hierbei eine Krankheit auf planetarer Ebene, die Neue Rechte zumindest eine Krankheit auf gesellschaftlicher Ebene. Unschöner Nebeneffekt: Die gesellschaftliche Krankheit heizt die planetare Krankheit gezielt an – das hierfür genutzte Gift nennt sich „Neoliberal“.

So viel zum Problem – kommen wir zur Lösung

Wie wir gesehen haben, kommt die Krise überraschend (bzw. relativ überraschend) und stört die üblichen Abläufe: Auch hier ist die Pandemie ein anschauliches Beispiel. Hält man eisern an den Abläufen der Vorkrisenzeit fest, so wird die Krise nicht gelöst, sondern gestärkt. Bei Corona wären es zig Millionen Tote gewesen. Beim klimatisch-ökologischen Kollaps stößt die Menschheit erstmalig in den Bereich von Milliarden Toten vor. Gerade die klimatisch-ökologische Bedrohung zeigt uns deutlich, dass eine Krise etwas anderes fordert, als das stupide „Weiter so!“ aus dem Werkzeugkasten patriarchaler Bockigkeit. Sie fordert Flexibilität!

Flexibilität beschreibt ein anpassungsfähiges Verhalten. Anpassung bedeutet reflexhafte Veränderung, aber auch bewusstes Umdenken. Und damit sind es die gewohnten Wege, die durch eine flexible Reaktion auf eine Krise infrage gestellt werden. Wir sind gefordert, eingeübte – und in der Vorkrisenzeit möglicherweise erfolgreiche – Wege zu verlassen und neue, unbekannte und ungeübte Wege zu betreten. Sprich: Wir müssen uns mit Hindernissen und Unwissen auseinandersetzen. Das Wunderschöne daran: Genau dafür ist das menschliche Gehirn gemacht!

Solche Narrative wie die kindliche Neugier, der Aufbruch in ein neues Leben und die Fähigkeit zur selbstkritischen Veränderung werden hoch geschätzt – zumindest als Eintrag im Sprüchekalender. Analog zur „wehrhaften Demokratie“ ist uns auch die Flexibilität so wichtig, dass wir sie bei vielen guten (und weniger guten) Gelegenheiten ans nächstbeste Plakat pinseln. Doch leben wir das auch, was wir so gerne behaupten?

Wo liegt nun das Problem?

Das menschliche Gehirn fährt vielgleisig. Bei aller Überlegenheit in Sachen Flexibilität, klammert es sich ebenso an der Gewohnheit fest. Und bei der Gewohnheit fällt uns eine unschöne Funktionsweise auf die Füße: Je länger und umfassender man sich an etwas gewöhnt, desto schwieriger ist es, aus dieser Gewohnheit wieder heraus zu kommen – man denke nur an die Umstellung der Ernährung!

Nun haben sich die westlichen Gesellschaften seit den 1950ern daran gewöhnt, in einem krisenbefreiten Luxus zu schwelgen, in dem die (Lebens)Wege vorgezeichnet und die weichen Sessel vorbereitet sind: Schule 🠒 Arbeit 🠒 Hochzeit 🠒 Kinder 🠒 Kreuzfahrt 🠒 Tod. Wir haben uns eine starre Welt gebaut, da uns diese Starre ein Gefühl von Sicherheit gibt: Erstmals hat 9/11 diese scheinbare Sicherheit infrage gestellt – doch viel zu schnell sind wir wieder in die Gewohnheiten verfallen, die unser ganzes Leben dominieren: Shopping und Fortpflanzung. Denn diese starre Welt hat einen prägenden Einfluss auf unsere Fähigkeit zur Felxibilität: Sie wird untergraben.

Die westliche Demokratie ist dabei wie ein Elefant (nennen wir ihn „Olaf“), auf den eine Lawine zu rast: Er fühlt sich groß und unumwerfbar – und bleibt einfach stehen. Wir sehen es bei SPD und FDP in der Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik: Einfach weiter, wie in den 80ern. Wir sehen es bei der Kommunikationsstrategie der Grünen: Einfach weiter, wie in den 90ern. Wir sehen es in unserem privaten Umfeld: Einfach weiter, wie ist eigentlich egal.

Flexibler sind die Neuen Rechten und ihre willfährigen Zehenstreichler (ehemals Konservative). Man hat schnell gelernt, dass die alten Regeln heute nicht mehr gelten. Darauf bauen Kampagnen auf, die z.B. Patrick Graichen den Job und der Wärmepumpe ihren Siegeszug gekostet haben. Man hat gelernt, dass heute viel massiver mit Dreck und Steinen geworfen wird, als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Und man nutzt diesen Lerneffekt für strategische Machtpolitik, die sich sichtbar in den Umfragewerten abbildet.

Und jetzt?

Wir sehen also, dass wir uns in Krisenzeiten befinden: Althergebrachte Wege werden nutzlos, wer diesen Wegen weiterhin folgt (Stichwort: Appeasement-Politik), wird untergehen. Dass sich vor allem die Rechten und die neoliberalen Weltvernichter auf diese neue 2020er-Gesellschaft einstellen – und sie damit zunehmend formen – während ein großer Teil des progressiven Spektrums im höflichen Weiter-So verharrt, ist eine Inflexibilität, die wir uns im Angesicht dessen, was da auf uns zurollt (und teilweise schon überrollt), nicht mehr leisten können. Man kann diese Inflexibilität durchaus als Realitätsflucht bezeichnen.

Enden möchte ich – ausnahmsweise! – mit einem Zitat von Björn „Heil“ Höcke. Bzw. mit einer sinnigen Variation seines strunzbekloppten Männlichkeits-Zitats:

Wir müssen unsere Flexibilität wieder Entdecken! Denn nur, wenn wir unsere Flexibilität wieder entdecken, kann die Demokratie wehrhaft werden. Unter dem Druck der Krisen muss eine Demokratie wehrhaft sein! Wehrhaft nicht zuletz, um solche Schmalspur-Adolfs wie Björn Höcke und solche Vollblut-Adolfs wie Vlad Putin auf ihre Plätze zu verweisen.

Und hier, liebe gewaltfreie Bildungsgesellschaft, kommt der neu zu begehende Weg, der sich – wie übrigens jede Verteidigungsstrategie! – an der Art und Heftigkeit des Angriffs orientiert: Ohne etwas Badass in der Attitüde, ohne die Bereitschaft, die Angriffe auf unsere Zukunft mit aller Härte zurück zu schlagen, werden wir verlieren. Von Gene Hackmann zu lernen, heißt in diesem Fall: Siegen lernen!

Über Dominic Memmel

Eine gesunde Mischung aus Kommunikation & Menschenkenntnis
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