Monsieur M und das Dorf der Verdammten


Es war wohl mein Chef gewesen, der das Dossier auf meinem Schreibtisch platziert hatte. Es lag so augenscheinlich beiläufig zwischen den restlichen Akten, es schrie geradezu nach Aufmerksamkeit. Also zog ich die dünne Mappe aus den zum Teil recht umfangreichen Interviews, Pressestimmen, Fotografien und sonstigen Zusammenstellungen zu so ernsten Themen wie die Kirchweih von Alzey heraus, warf ein paar Stirnfalten, lehnte mich in meinem Sessel zurück und klappte das Dossier auf. Zuoberst befand sich eine Karte von der Gegend zwischen Hof und Hildburghausen, also recht genau an der Grenze zwischen Bayern und Thüringen. Im linken Drittel befand sich zudem Coburg, etwa zwölf Kilometer östlich von einem kleinen Dorf namens Mitwitz, welches im Zentrum einer roten Markierung lag, die einen Durchmesser von gut fünf Kilometern hatte. Ich besah mir die Karte ein Weilchen, blätterte aber weiter, als auch nach genauerem Hinsehen nichts als die Markierung um Mitwitz herum zu entdecken war.
Die zweite Seite war ein Artikel aus dem Coburger Tageblatt, datiert auf das Jahr 1996:

Mysteriöse Ohnmacht in Mitwitz
Am gestrigen Montag, den 11. März, kam es in Mitwitz zu einem absonderlichen Vorfall. Nach bisher nur teilweise bestätigten Meldungen fielen die Bewohner des fünfzehn Kilometer östlich von Coburg gelegenen 2.000-Seelen-Dörfchens in eine Art Massenohnmacht. Laut Polizeiangaben kann sich keiner der Einwohner an die Zeit zwischen 12:45 und 14:45 Uhr erinnern. Manch einer erwachte gar mit Schrammen von einem Sturz, der nur auf eine plötzlich eintretende Ohnmacht zurückzuführen ist. Eine Ursache für dieses Phänomen konnte bisher nicht gefunden werden, größere Schäden gab es zum Glück keine.

1996? Ich stutzte und zündete mir eine Zigarette an und ging kurz in mich. Was sollten diese alten Kamellen bitte? War ich über Nacht zum Historiker geworden und hatte es nur nicht bemerkt? Zum Glück war mein Chef beim Ökkenheimer Telegraph ein so starker und militanter Raucher, dass wir alle am Arbeitsplatz rauchen durften, wenn nicht gar mussten. Aus Mangel an einem Aschenbecher aschte ich auf den Boden und sicherte unserer Putzfrau nebenbei den Job.
Die dritte Seite war in Handschrift mit dem Vermerk „Aus sicheren Quellen“ überschrieben. Der eigentliche Text kam jedoch von der elektrischen Schreibmaschine des Chefs, wie ich am fehlenden A leicht erkennen konnte:

m 19. Oktober 1996 werden in Mitwitz 58 Kinder geboren. Viele der Mütter behupten, sie hätten seit Jhren keinen Koitus gehbt, unter den 58 sind nch eigener ussge 12 Junfruen.
Die Kinder hben lle die gleiche Hrfrbe, ein glänzendes Kstnienbrn. Obwohl sie schon im 7. Mont uf die Welt gekommen sind, entspricht ihr körperlicher Zustnd dem eines Kindes im 11. oder 12. Mont. Ds deutlichste Merkml sind ber die gen. (Ich war mir nicht sicher, doch scheinbar meinte er die Augen.) Sie sind tiefschwrz und strhlen eine ungewöhnliche ufmerksmkeit us. Es sind nur Jungen.
Über die Jhre schwindet ds wissenschftliche Interesse n der Sche, der Konsens ist der, dss sie lle ein und den selben Vter hben, einen urpotenten Hund vn einem Mnn, der Rest sei whl Zufll.
Die Kinder entwickeln sich sehr schnell, etw mit der 1,3-fchen Geschwindigkeit von normlen Kindern. (Dies und die folgenden Informtionen stmmen von einem Beobchter, der der offiziellen Drstellung keinen Gluben schenkte und sich frühzeitig unter die Dorfbewohner mischte. Nme: Theres Klusner.)
Hier stand wieder handschriftlich vermerkt: „Theresa Klausner“.
Die Kinder verhlten sich sehr uffällig. Sie integrieren sich kum in ds dörfliche Leben, ds Leben der Eltern oder ds Leben der sonstigen Kinder von Mitwitz. Sie bilden bld eine eigenständige Gruppe, vom Rest der Bevölkerung von Mitwitz bgekpselt. Ihre emotionle Intelligenz ist erstunlich; wenn sie sich usnhmsweise in ds Dorfleben einschlten, lösen sie im Hndumdrehen scheinbr unlösbre Konflikte. Sie hlten jeden Smstg eine rt frühchristliche Messe in der Jkobskirche b, obwohl Mitzwitz evngelisch ist und niemnd genu sgen knn, woher sie ihr Wissen über ds Frühchristentum hben.
ußerdem können sie Heilen durch Hnduflegen.
Schon bld werden die Kinder von vielen Erwchsenen ngefeindet, ws dzu führt, dss sie sich 2005 in den Wld um Mitwitz zurückziehen.
Dies lles geschieht, ohne dss ds Umlnd viel dvon mitbekommt. Sowohl die Kinder, ls uch die Eltern wollen scheinbr den guten Ruf des Dorfs bewhren.

Ich hatte aufgeraucht und blätterte weiter. Die vierte Seite war nichts als eine ausgedruckte Email. Der Empfänger war unkenntlich gemacht, der Absender war niemand geringeres als besagte Theresa Klausner:

Sehr geehrter Herr XXXXXXXXXXX
heute am zehnten Juli kamen die Buben in das Dorf zurück. Man hat sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, sie schienen wie vom Erdboden verschluckt. Jedoch geschahen in der Zeit hier und da Wunderheilungen wie sie typisch für die Buben sind – jedoch nur bei Tieren. Ich bin mir sicher, sie waren nie wirklich fort. Heute kamen sie aber zurück. Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll… Sie tragen Roben, haben alle Bärte und lockiges Haar. Sie sind ausgewachsene Männer, obwohl sie erst vierzehn Jahre alt sein können. Irgend etwas ist über ihren Köpfen, eine Art Licht.
Bitte haben Sie Geduld, die Buben wirken nicht bösartig. Ich berichte, wenn etwas geschieht.
Herzliche Grüße,
Theresa Klausner

Vielleicht muss ich dazu sagen, dass die meisten Menschen dieses seltsame Dossier für einen Aprilscherz gehalten hätten. Doch haben mich meine freiwilligen Dienstreisen wie auch die sonstigen teils unfreiwilligen Reisen manches Mal viel weiter hinter die Grenzen des Fassbaren geführt, als es ein paar schnell wachsende Jünglinge waren, die durch Handauflegen kranke Kühe heilten. Zudem kenne ich meinen Chef; er hat mit Humor so viel zu schaffen wie der Heiland mit der Hure Babylon.
Die fünfte und letzte Seite war kein Papier, sondern eine Klarsichthülle. In ihr befanden sich ein Zugticket nach Coburg, die Adresse von Theresa Klausner auf einen Schmierzettel gekritzelt, sowie 250 Euro für die Spesen. Der Auftrag war klar: ab nach Mitwitz und den Jünglingen mal auf den Zahn fühlen, mit dem Ziel einer brandheißen Story für den Ökkenheimer Telegraph.
Es gab für mich kein Halten mehr. Die Seiten drei und vier hatten mein journalistisches Blut in Wallung gebracht und so holte ich noch ein klein wenig Recherche ein, vor allem zu Markt Mitwitz, fuhr dann mit dem Rad nach Hause, das Dossier fest unter den Arm geklemmt wie eine Mutter ihr Baby wenn sie vor dem Krieg flieht, packte meine fünf bis sieben Sachen und bekam tatsächlich noch den Zug um halb Vier.
Stunden später erreichte ich die oberfränkische Burschenhochburg Coburg, von der Fahrt noch leicht zerknittert. Die Passagiere pressten sich aus der Bahn, hinein in den Porzellanbahnhof, glitschten über die verschiedenen Treppen und Wege ihren diversen kleinbürgerlichen Zielen entgegen. Ich hatte den Bahnhof noch nicht verlassen und fand Coburg schon zum kotzen! Eine Gruppe Burschis lärmte vorbei, ihre Schärpen wie aufgesetzte Penisprothesen vor sich her tragend, und eine alte Erinnerung schwappte in mir hoch: Es war in Tübingen gewesen, auch dort ein Hauf an Burschenschaftlern, und die Liaison mit einer hektoliterweise Fischsuppe menstruierenden Ukrainerin… Schauen Sie jetzt nicht so verdutzt, ich sagte doch, meine Reisen sind gemeinhin ungewöhnlich.
Es war noch nicht allzu spät, die Sonne stand knapp über dem Horizont und so besorgte ich mir einen Mietwagen. Mein eigentlicher Plan hatte vorgesehen, heute in Coburg zu bleiben, doch stieß mich dieses Coburg mit all seiner erzkonservativen Macht so sehr ab, dass ich den Plan kurzerhand änderte. Natürlich war das Risiko vorhanden, dass ich in dem Dorf Mitwitz keine Unterkunft finden sollte, doch hatte ich ja noch die Adresse von Theresa Klausner, welche ich im Notfall eben nutzen würde.
Ich verließ Coburg über die Rosenauer Straße. Dann durch ein kleines Waldgebiet nach Lützelbuch. Von da aus weiter über Wald und Wiese nach Sonnefeld. Es war dunkel geworden, und ich erschrak schon sehr als mir zwischen Gestungshausen und Mitwitz eine Frau entgegen kam, ohne Wagen, ohne Licht, alleine in der aufkommenden Nacht. Ich hielt mit quietschenden Bremsen und fuhr ein Stück zurück, um die Frau zu erreichen, an der ich eben vorbei gefahren war.
„Hallo!?“ rief ich durch das geöffnete Fenster. Sie blieb zwar stehen, antwortete aber nicht. „Was machen Sie hier? Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?“ Ich meinte es ernst, immerhin war ich nicht in Eile. Langsam drehte sie den Kopf und fixierte mich.
Die Augen sind das Tor zur Seele, sagt man. Und ihre Seele muss vor kurzem einen drastischen Schock erlebt haben, sie hatte den Blick eines Hasen bei Gewitter. Doch war da noch mehr; sie war nicht apathisch, sie schien bei vollem Bewusstsein, auch der Verstand schien zu arbeiten. Doch das, woran er arbeitete, musste ein so extremer Eindruck gewesen sein, dass sie diesen scheinbar nicht fassen konnte. Sie blickte mir direkt in die Augen, mit einer Mischung aus Vorwurf („Warum kannst du nicht verstehen?“), Verwirrung („Wer bist du? Feind oder Freund?“) und Angst („Bitte hilf mir!“). Also reagierte ich instinktiv, denn damit lag ich meistens richtig.
Ich lächelte und sprach: „Was auch immer passiert ist, es ist jetzt vorbei.“
Zu meiner großen Überraschung begann sie zu lachen. Erst war es tonlos, dann kehlig, zuletzt aber warf sie den Kopf in den Nacken und lachte schallend wie von Sinnen. „Vorbei?“ rief sie, kaum in der Lage ein vernünftiges Wort zu artikulieren. „Vorbei?“ Dann, ganz plötzlich, wurde sie wieder ernst. Wie ein Tier senkte sie den Kopf, blickte mich unter den Augenbrauen hindurch schielend an, ihr Gesicht war eine boshaft grinsende Fratze, ihre Hände zu Fäusten geballt. Es lief mir kalt den Rücken herunter. Sie flüsterte. Leise zwar, doch so intensiv, dass die Welt davon erbeben musste: „Es fängt gerade erst an.“ Sie drehte sich um, rannte los und verschwand im Wald.
Nach ein paar Augenblicken setzte ich meinen Weg fort. Mitzwitz war keinen halben Kilometer mehr entfernt, eigentlich hätte ich die Lichter des Dorfes sehen müssen. Doch es gab keine, auch als ich das Ortsschild passiert hatte und vorsichtig durch die Gässchen rollte. Alle Fenster waren dunkel, selbst die Straßenbeleuchtung war abgeschaltet. Eine einsame Kuh kreuzte meinen Weg. Die Hoffnung auf ein Bett im Gasthof zum steinernen Löwen schwand gen Null, auch das Wasserschloss war in diesem Zustand nicht besonders einladend, obwohl ich mir da von vornherein nicht sicher gewesen war, ob es auch Gäste betreute. Also hielt ich an der Seite einer engen Straße, kramte das Dossier aus meinem Rucksack hervor und suchte nach der Adresse von Theresa Klausner. Sie wohnte Am Wolfsgarten, einem Weg mit weniger als einem Dutzend Häuser. Auch hier war alles dunkel. Ich stellte den Wagen ab, packte meinen Rucksack und näherte mich ihrem Haus. Die Stufen hoch, den Finger auf den Plastikknopf gedrückt, innen löste sich ein elektrischer Gong. Sofort wurde mir bewusst, dass das völlige Fehlen von Licht in Mitwitz nicht auf einen Stromausfall zurückzuführen war.
Niemand öffnete. Ich läutete fast eine viertel Stunde, ging zwei mal um das Haus herum, klopfte an diverse Fensterscheiben, doch es schien verlassen. Ich überlegte einen Moment, ob schon so früh auf dieser Reise die Zeit für rabiatere Mittel gekommen war, und entschied mich nicht zuletzt wegen der verwirrten Frau von vorhin dafür. Also holte ich die kleine aber sehr effektive Brechstange aus meinem Rucksack, die ich gelegentlich mit mir führe, und stemmte die Haustüre auf. Da niemand hier war suchte ich mir das Schlafzimmer, hängte für den Fall der Fälle einen entschuldigenden Zettel an die Türe und schlummerte bald friedlich vor mich hin.
Wilde Träume von wehendem Wüstensand. Die Luft flimmert, ein brennender Busch singt ein Lied von den Rolling Stones. Sechsundfünfzig goldene Kinder entsteigen einer Erdspalte, auf schwarzen Lämmern mit drei Köpfen und acht Spinnenbeinen reitend. Sie schwingen das Feuer, auf dass auch die letzte Blume verdorrt. Sie peitschen die Sonne vom Himmel, die Sterne sind blutrote Kugeln aus Jaspis, fallen herab, trommeln wie Hagelkörner auf die Erde und löschen das Leben aus…
Schweißnass fuhr ich hoch, plötzlich hellwach. Noch bevor meine Augen etwas wahrnehmen konnten, obwohl es mittlerweile helllichter Tag war, bemerkte ich, dass ich nicht alleine war. Ich blinzelte und sah mich um. Ich war nicht nur nicht alleine, das Schlafzimmer war voller junger Männer. Sie waren groß, hatten kastanienbraunes, wallendes Haar und tiefschwarze Augen, denen das Weiß völlig fehlte. Sie waren in weiße Roben gekleidet und lächelten aus ihren fülligen Bärten hervor. Ihre Zähne waren strahlend, ihr Lächeln sanft aber fremdartig. Es standen etwa fünfzehn oder zwanzig von ihnen im Zimmer, doch die Tür war offen und ich sah, dass sich dort noch einige mehr aufhielten. „Wer seid ihr?“ fragte ich etwas perplex, nachdem ich mich ein wenig aufgerichtet hatte. „Was wollt ihr hier?“
„Wir,“ begann einer etwas links von mir.
„…sind Jesus,“ endete ein anderer, der rechts am Fenster stand.
Ich musste lachen. „Was seid ihr!?“
„Wir sind Jesus,“ wiederholte nun einer, der mir gegenüber stand, die Tür im Rücken. Mehr als dreißig Köpfe in meinem Blickfeld nickten bedächtig.
„Himmel, nochemal!“ rief ich aus. „Ihr wollt mich wohl verarschen!?“
„Nein.“ „Nein.“ „Nein.“ kam es wie ein Echo aus verschiedenen Richtungen.
„Hmmm…“ So kam ich an die Typen nicht heran. Doch zum Glück bin ich ein erfahrener Journalist und weiß, dass zum Beispiel in einem Interview, welches auf ähnliche Art und Weise beginnt, ein häufiger Wechsel der Fragerichtung eine gute Methode ist, den gesprächigen Punkt des Gegenüber zu finden. „Wer ist bei Euch der Chef?“ fragte ich in die Runde. Doch anstatt zu antworten blickten sie andächtig nach oben.
„Schön, der Dachboden ist also euer Chef. Und was wollt ihr von mir?“
„Was willst du von uns?“ kam die Gegenfrage aus mehreren Mündern. „Du bist doch nach Mitwitz gekommen.“
„Ja, von euch will ich gar nichts,“ log ich wie gedruckt, hatte ich die Burschen doch längst als jene Kinder erkannt, die damals am 19. Oktober 1996 zur Welt gekommen waren. „Ich besuche nur eine Freundin. Leider ist sie verschwunden…“ Ich blickte traurig zur Seite, doch was ich sah ließ mich versteinern. Auf dem Nachttisch stand eine Fotografie, eine Frau mit ihrem Hund. Es war Theresa Klausner, schließlich war ich hier in ihrem Haus – die verwirrte Frau vom Vorabend!
„Was schreckt dich, mein Sohn?“ fragten die selbsternannten Jesusen, ohne dass ich einen Zynismus oder gar Berechnung in ihren so gleichförmig mitfühlenden Stimmen ausmachen konnte.
„Der Hund…“ stammelte ich. „Der… der… ich hatte ihn… eine schlimme Erinnerung.“
„Oooh, das tut uns leid.“ Sie standen eine Weile schweigend da, doch ihre Augen gerieten in Bewegung, als würden sie eine telepathische Konferenz abhalten. Dann wandten sie sich wieder an mich: „Du weißt sehr viel über uns. Woher weißt du das alles?“
„Ääähhh… nein, über eine Theatergruppe in Mitwitz weiß ich nichts.“
„Du weißt von dem Tag vor vierzehn Jahren, als der Heilige Geist über die Frauen gekommen ist,“ entgegneten die Burschen. „Du kennst unsere Geschichte in diesem Ort.“
„Jaja, Freunde.“ Langsam wurde mir das Spiel zu blöde, also ging ich Stur auf Konfrontation: „Ich weiß auch, dass ihr euch verflogen habt. Das hier ist Mitwitz, nicht Betlehem 2.0. Überhaupt, Gottes Sohn in Oberfranken, dass ich nicht lache! Ihr Bübchen habt vielleicht alle den gleichen Vater, aber ER ist es nicht!“
In genau diesem Moment fiel mir ein kleiner Stein in den Schoß. Er kam nicht von einem der Jesusen, er war direkt von der Zimmerdecke gefallen: Ein blutroter Jaspis, wie einer der Sterne aus meinem Traum. Überhaupt wurde mir dieser Traum erst durch den Stein in meinem Schoß wieder bewusst. Ich schluckte, blieb aber standhaft: „Ihr seid auch nicht Houdini, Mensch-Herrgott-nochemal!“ Langsam gingen mir die Typen auf die Nerven. Ich hatte noch nicht einmal gefrühstückt, und vor dem Frühstück bin ich gemeinhin leicht reizbar. „Habt ihr nichts besseres zu tun als euch als Jesus zu verkleiden?“
„Oh doch, das haben wir,“ kam die Antwort prompt. „Wir müssen die Offenbarung vorbereiten.“
„Die Offenbarung, aha. Das muss ja eine ziemlich aufwändige Offenbarung sein, wenn dazu sechsundfünfzig Jesusen benötigt werden!“
„Du weißt auch, wie viele wir sind,“ lächelten die bärtigen Hippies.
Verdammt, ich hatte mich verraten.
„Du bist ein Fremder, der sehr viel weiß.“
Ich ignorierte den Gegentreffer und konterte: „Ist das nicht etwas gemein von IHM, wenn ER die Offenbarung auf so viele Söhne aufteilt? Meint ihr, ER hält euch für so unfähig, dass es sechsundfünfzig Jesusen braucht, um nur eine Offenbarung zu organisieren?“ Zu meiner großen Verwunderung schien ihnen dieser Gedanke unbehaglich. Sie starrten mich an, spielten mit den Fingern an ihren Roben oder kratzten sich im Gesicht, als hätte sie ein plötzlicher Juckreiz befallen. Hatte ich den wunden Punkt also schon gefunden! „Hey Leute, ihr seid immerhin Gottes Söhne, also mindestens halbgöttlich. Der Jesus von Nazareth hat auch keine Klone gebraucht um die Welt zu verändern. Aber jetzt… Gott hat kein Vertrauen mehr in seinen Sohn.“ Sie begannen zu schwitzen, sie schienen diese Jesus-Nummer tatsächlich zu glauben, denn für eine Folge von Versteckte Kamera wäre dieser Witz zum einen zu aufwändig und zum anderen einfach zu gut.
Sie waren nervös, begannen sogar miteinander zu streiten, sich zu schupsen. Tatsächlich schien sich die Meinung durchzusetzen, ihr Vater, der große Herr Zebaot, sei ein kleingeistiger Lügner. Jetzt hatte ich diese verkappten Gottessöhne da, wo ich sie haben wollte. Und da folgte ich dem Rat, den mir ein befreundeter Kasache vor vielen Jahren gegeben hatte: Hast du deinen Gegner in der Ecke, dann nagle ihn fest, liegt er aber am Boden, dann trete nach!
„Jungs, da ist aber noch etwas!“ rief ich laut, mittlerweile so in Fahrt, dass ich in Unterhosen mitten in Theresa Klausners Doppelbett stand, wie einst Heinrich V. vor der versammelten Armee Britanniens.
„Aber…“ „Aber…“ „Aber…“ schallte es mir entgegen. Selbst im Garten standen Jesuse, es waren also alle sechsundfünfzig da. Und wenn ich in Fahrt bin, dann bin ich in Fahrt. Mein Unterbewusstsein ist so sehr mit Filmzitaten gefüllt, dass es in den unmöglichsten Situationen fast immer ein passendes Zitat zur Verfügung hat. Selten nur spreche ich es aus, meist bleibt das Zitat mein heimlicher Kommentar zur jeweiligen Situation, doch diesmal war es so treffend, was da in mein Bewusstsein schwappte, dass ich mir Zeit ließ, die Jesuse fixierte, erhöht über ihnen stehend, die Spannung bis ins unermessliche reizte. Kaum hatten sie begriffen, dass ich keinen langen Monolog von mir geben würde, erstarb ihr elendiges „Aber..“ und „Aber…“ und sie klebten schweigend an meinen Lippen, wie die Kinder in einer windigen Nacht auf dem Lande an den Lippen der Großmutter, wenn sie Geistergeschichten zum Besten gibt. Ich aber sah mich vor meinem inneren Auge als Connor McLeod in den schottischen Highlands stehen, das Schwert hoch erhoben, das in der Realität meine nackte Faust war, so wie die Highlands nichts als ein zerwühltes Federbett, und ich rief: „Es kann nur Einen geben!“
Das hatte gesessen. Innerhalb weniger Augenblicke ging die Saat auf, missgünstige Blicke wanderten zwischen den Jesusen hin und her, Jesus für Jesus, wurden härter, extremer, hassefüllter, stumpfer und dümmer. Ich stand auf dem Bett und erwartete eine ordentliche Schlägerei unter dieser urkomischen Schauspieltruppe, doch was dann geschah lässt sich wohl mit keiner Sprache dieser Welt beschreiben. Ja, es war eine Art Schlägerei, doch wurde sie geführt, wie es sich für sechsundfünfzig Gottessöhne eben gehört: Mit Blitzen und Feuer, mit Verschiebungen in Raum und Zeit, mit… ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Am Ende aber waren alle tot und Mitwitz ein einziger verbrannter Krater. Nur das Doppelbett einer gewissen Theresa Klausner stand wie durch ein Wunder unversehrt im kokelnden Nichts, mit mir obendrauf, noch immer das fiktive Schwert des Highlanders in den Himmel reckend.
Langsam kam mein Verstand wieder zurück. Er hatte sich während der göttlichen Schlägerei eine Pause gegönnt, was Sie sicherlich verstehen können. Ich nahm die Hand herunter, stieg vom Bett herab, noch immer in Unterhosen. Die Asche war warm, hier und da lag noch etwas Glut auf dem Boden, doch im allgemeinen konnte man auch barfuß darauf gehen. Der Mietwagen war wie alles andere atomisiert, also machte ich mich zu Fuß auf den Weg.
Asche, Asche, Asche, nichts als warme Asche war von Markt Mitwitz übrig geblieben. Nur das Bett und ich hatten überlebt. So schlenderte ich durch das Schwarz, richtete mich nach der Sonne, ohne überhaupt zu wissen, wohin ich gehen sollte, als eine tiefe Stimme rief: „Halt!“ Die Stimme kam von rechts, ich sah hinüber, erblickte aber nur einen brennenden Busch. Er hatte zumindest fast überlebt. Ich schüttelte den Kopf, glaubte schon halluziniert zu haben, doch wieder rief mich die Stimme an: „Du Idiot hast mir meinen ganzen Plan durcheinander geworfen!“ Und tatsächlich, kein Mensch weit und breit, die Stimme kam direkt aus dem brennenden Busch. Mir grauste, konnte es denn sein…
„Jetzt brauch ich nochmal ein paar tausend Jahre, Mann! Die Menschheit ist reif, und du hast es versaut!“ bekräftigte die Stimme ihren Vorwurf.
„Äääh.. was?“ Ich kam näher, fixierte den Busch. „Was willst du von mir… äähh… Busch?“
Der Busch räusperte sich, Myriaden kleiner Funken stoben von ihm auf: „Du dämlicher Idiot, was hast du hier überhaupt verloren? Es war beinahe sow-“
Doch weiter kam er nicht, denn er wurde plötzlich von einer weißen Wolke aus einem Feuerlöscher eingehüllt. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war der brennende Busch nicht mehr als ein erbärmliches, von Löschschaum verschmiertes abgebranntes Durcheinander und so sprachlos wie tot. Ein sehr großer hagerer Mann Mitte Fünfzig kam um die Reste des Busches herum, wahrscheinlich war er eben einer Erdspalte entstiegen. Er trug einen schwarzen Anzug, der augenscheinlich maßgeschneidert war, dazu eine flammend rote Krawatte und einen ebenfalls schwarzen Hut. In der linken Hand hielt er den Feuerlöscher, warf ihn jedoch achtlos beiseite und griff sich lässig ins Jackett. Er kam auf mich zu, ein schiefes Lächeln im Gesicht, drückte mir eine Visitenkarte in die Hand, nickte anerkennend und sagte nichts. Er ging einfach an mir vorbei, und als ich mich umdrehte, da war er verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
Einen Artikel für den Ökkenheimer Telegraph durfte ich nicht mehr schreiben, nachdem ich meinem Chef diese Geschichte erzählt hatte. Er schickte mich in den Urlaub und empfahl mir einen Psychiater. Doch Sie glauben mir doch und möchten sicher wissen, was auf der Visitenkarte stand?
Wirklich!?
Also gut:

Meister Urian GmbH
Dienstleistungen am Menschengeschlecht
(Kriege, Pestilenzen, Wahnsinn, Hass und Ewiges Leben)
>>> Dein Ruf wird erhört! <<<

Über Dominic Memmel

Eine gesunde Mischung aus Kommunikation & Menschenkenntnis
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