Schachnovelle mit Schienbein


Im Schach, wie in der heutigen Gesellschaft, ringen zwei Strömungen um die Vorherrschaft: Schwarz und Weiß, Reaktionär und Progressiv. Die Europawahl 2024 hat deutlich gezeigt, dass die reaktionären Kräfte Auftrieb haben, während das progressive Elend die Menschen wahlweise depressiv oder wütend macht.

Die Stärke der Reaktionären liegt in der Schwäche der Progressiven, der Grund hierfür ist offensichtlich: Während reaktionäre Kräfte in einer Welt voller Veränderungen (Klimakrise, ökologische Krise, Wirtschaftskrise, Pandemie, Krieg, Terror) wenig Argumente haben, liegt der Vorteil klar bei progressiven Denkweisen: Sie sind dazu in der Lage, auf Veränderungen schnell und flexibel zu reagieren und – sitzen sie in der Politik – die notwendigen und zukunftsweisenden Weichen zu stellen. Auf der inhaltlichen Seite haben die Reaktionären also wenig zu bieten, dass sie trotzdem Wahlen gewinnen, muss andere Gründe haben.

Auf der Suche nach jenen anderen Gründen, stoßen wir schnell auf ein traditionelles Problem progressiver Kräfte: Die Ignoranz gegenüber den archaischen Mechanismen des Homo sapiens. Anstatt die wirkungsvollen Hebel zu bedienen (die mit „Stumpf ist Trumpf“ ganz gut beschrieben sind), ergeht man sich in einer Intellektualität/Moralität, die sich letztlich nur im Kreis der eigenen Kernwählerschaft dreht. Es ist der berühmte Elfenbeinturm, der ebenso traditionell zum Scheitern verurteilt ist, wie es die „einfachen Leute“ sind, die ihn (aufgepeitscht und angeleitet von den Reaktionären) zum Einsturz bringen.

Zur weiteren Betrachtung soll uns das Schachspiel als Metapher dienen.

Schach 1: Es geht ums Gewinnen

Der Wahlkampf ist ein Kampf, geführt wird er (noch) mit friedlichen Methoden. Das oberste Ziel ist es nicht, den politischen Gegner von den eigenen Positionen zu überzeugen (dieses Ziel wird nach der Wahl in Parlament und Gremien verfolgt), sondern schlicht und einfach: Den Gegner zu schlagen.

Vergleichen wir die Parlamente mit einem Schachbrett, so ist ein Feld auf dem Brett analog zu 1,5625% der Wählerstimmen. Bei 100% ist das gesamte Feld besetzt. Es geht also im Schach wie im Wahlkampf um die Vorherrschaft auf einem abgegrenzten Feld. Je mehr Fläche (Prozente) erobert wird, desto siegreicher geht eine Partei aus diesem Kampf hervor. Darauf sollte der Kampf also strategisch ausgerichtet sein: Auf die Übernahme möglichst vieler Felder, nicht auf das halten der eigenen 16 Felder zu Beginn des Spiels. Methodisch heißt das: Schlage deinen Gegner wo du kannst, führe ihn in die Irre, beeinflusse sein Spiel und setz dich durch!

Rücksicht und Defensive sind hierbei höchstens taktische Mittel. Die Ausrichtung ist offensiv, wenn sie gewinnen will: Wie gesagt, es ist das Ziel, möglichst das gesamte Feld zu erobern. Und dieses Ziel (erobern) unterliegt einer grundsätzlich offensiven Denkweise. Manch einer würde sagen: Angriffslustig. Hier mag uns die Moral im Wege stehen, aber dazu mehr.

Schach 2: Gleichheit der Waffen

Fernsehwerbung, Postwurfsendungen, Wahlplakate, Podien… im Wahlkampf ist erlaubt, was der Gesetzgeber nicht verbietet. Das ist eine Frage der Gesetze, nicht der Moral. Sinnigerweise schränken wir die Methoden des Wahlkampfs noch ein wenig ein: Erlaubte Methoden, die eine Wirkung entfalten. Die Methode „Armdrücken“ fällt also heraus, obwohl sie von keinem Gesetz verboten wird.

Beim Schach stehen sich zu Beginn identische Figuren auf nahezu identische Art und Weise gegenüber (Königin und König machen hier die Ausnahme, die sich tatsächlich gegenüber stehen – aus Sicht der Spieler also links und rechts vertauscht). Wenn nun ein Spieler alle Figuren nutzt, sein Gegenüber aber auf Turm und Pferd verzichtet (z.B. aus moralischen Gründen), so ist klar, wer das Spiel gewinnen wird. Für eine realistische Chance ist die Gleichheit der Waffen also elementar: Nutze alle Figuren und alle Strategien, die dir zur Verfügung stehen!

Schach 3: Der Tritt ans Schienbein

In der politischen Debatte – dem Ringen um die Vormachtstellung in den Parlamenten – kommt seitens der reaktionären Bewegungen seit einigen Jahren ein besonderer Faktor hinzu: Unter dem Tisch, auf dem das Schachbrett steht, werden Tritte gegen die progressiven Schienbeine verteilt – der reaktionäre Spieler spielt unfair! Und er beginnt, sich darin zu gefallen.

Ein Schachspiel wird nicht nur über Taktik und Rücksichtslosigkeit gewonnen (keine Rücksicht mit dem Gegner, seine Schwächen werden ausgenutzt), sondern zusätzlich über die Konzentration. Je höher die Konzentration, desto fehlerfreier ist das Spiel. Dem gegenüber steht der Stress, der die Konzentration stört und somit die gesamte Spielweise. Unfaire Tritte gegen das Schienbein stören die Konzentration: Sie haben einen direkten Einfluss auf das Ergebnis – hier das Schachspiel, dort die Wahl.

Man möchte rufen: „Das geht so nicht!“ Nun ja, im politischen Diskurs ist dieser Ruf ein gängiges Echo aus dem progressiven Spektrum. Nur nützt der Ruf nicht viel, wenn es keinen Schiedsrichter gibt. Beim Turnierschach würde dieser Ruf erhört, im Wahlkampf verhallt er in den Bergen. Denken wir also in der Schachlogik (strategische Effizienz), können wir uns die Empörung sparen: Wer soll darauf reagieren?

Strategie gewinnt, Moral verliert

Es fühlt sich jedes Mal aufs Neue gut und richtig an: Kalte, übermächtige Strategen werden von einer heillos unterlegenen, bunt zusammengewürfelten Chaostruppe zerlegt: Das (moralisch) Gute gewinnt! Dann folgt der Abspann und wir gehen zufrieden aus dem Kino. Zurück in die Realität, in der fast jeder Film ein schlechtes Ende hätte.

Wenn Strategie gegen Moral antritt, dann gewinnt die Strategie. Es mag uns nicht erfreuen, dass moralische Integrität und intellektuelle Überlegenheit wertlos sind, wenn sie nicht von einer gewinnorientierten Strategie zur nächsten Wahl getragen werden. Gerade im politisch progressiven Lager (Rot-Rot-Grün) scheint der Wert von Strategie und der Gleichheit der Waffen nicht verstanden zu sein: Man verweigert die bunte, billig blinkende Verpackung (oder verwechselt „bunt“ mit „positiv“), weil die Inhalte ja durch ihre sachliche Richtigkeit überzeugen sollen. Überzeugend ist hierbei nichts, am wenigsten die Verweigerung der sozialpsychologischen Realität.

Der Kampf um politische Mehrheiten ist ein Machtkampf, größtenteils losgelöst von den Inhalten. Auf der einen Seite sehen wir mit Wohlfühl-Kalendersprüchen ausgestattete Wahlplakate, auf der anderen Seite kann uns der Verweis auf die Werbung unsere von Daten, Moral und Intellektualität verklebten Augen öffnen: Werbung funktioniert nicht dadurch, dass sie Inhalte vermittelt (diese Pizza enthält 20% Zucker und 20% Fett), sondern durch ein stetig wiederholtes Ansprechen der Gefühle (diese Pizza essen fröhliche Menschen) – ganz gleich, ob die der Realität entsprechen.

Werden wir nun alle Populisten?

„Populismus“ stammt von „populus“ (lat. „Volk“) und meint in erster Linie eine Ansprache an jenes Volk, die möglichst viele Menschen auf sich vereinen kann – so werden z.B. populärwissenschaftliche Bücher weitaus häufiger gelesen, als die zugrunde liegenden Studien. Das Gefühl und die Vereinfachung sind dabei wirkungsvolle Hebel, ebenso die Wut und die Polarisierung. So ist das ewige Beschwören der „Messermänner“ durch die AfD genauso populistisch, wie folgender Slogan der Grünen zur Europawahl 2024: „Nur Demokratie schafft Freiheit“. Wir sind also längst Populisten, es passt nur nicht in unser Selbstbild, das auch zuzugeben. Und diese Verweigerung unseres Selbst führt auf direktem Wege zur Verweigerung gewisser Werkzeuge: „Ich würde niemals manipulative Sprache benutzen!“ Und fünf Minuten später wird das Plakat auf eine subtile, emotionale Wirkung hin designt – was der Definition von Manipulation entspricht:

Manipulation
Die Beeinflussung von Denken/Handeln, so dass die beeinflusste Person/Personengruppe eine vom Manipulator gewünschte Entscheidung trifft, dabei jedoch den Eindruck hat, für diese Entscheidung selbst verantwortlich zu sein. Will eine Partei mit Wahlwerbung dafür sorgen, dass die Menschen die Entscheidung treffen, besagte Partei zu wählen, jedoch mit dem Gefühl, diese Entscheidung selbst getroffen zu haben, so sind wir mit Manipulation konfrontiert. Was folgt daraus? Jede Wahlwerbung ist manipulativ!

Der Populismus ist die Verpackung, unabhängig von den Inhalten. Es ist wie mit einem Paket: Ich kann es so verpacken, dass sich die Menschen darum reißen, und ich kann es so verpacken, dass es niemanden interessiert. Ob sich in dem Paket nun ein süßes Kuscheltier oder ein tickender Sprengsatz befindet, ist von der Verpackung erst mal unabhängig. Insofern ist die Antwort auf die Frage, ob wir nun Populisten werden sollen: Jein!

Populäre Verpackung: Ja. Den Populisten typisch asoziale Inhalte: Nein. Denn letztlich ist es wie beim Schach: Es haben nur die eine Chance, die das Verwenden aller Figuren und Strategien in Erwägung ziehen. Mit der Hand auf dem Rücken kann man sich zwar selbst hochleben lassen („Schau: Ich bin die moralische Instanz!“), gewinnen kann man jedoch nicht.

Über Dominic Memmel

Eine gesunde Mischung aus Kommunikation & Menschenkenntnis
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